Boris Charmatz zeigt in Liberté Cathédrale wenig Überraschendes:

Ein jegliches

Das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch zeigt das erste Stück seines neuen Direktors Boris Charmatz mit dem zünftig französischen Titel „Liberté Cathédrale“. Er platziert es in den Mariendom in der Kleinstadt Neviges unweit von Wuppertal

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Nachtkritik von Melanie Suchy

Was war das denn? Sie sangen alle lalala. Und was sie tanzten, war so lalala.

Sie mühten sich sehr, sehr ausführlich und auf verschiedentliche Weise. Das alles auf Steinboden unter einer riesigen Kuppel aus Beton, aber mit behutsamen Winkeln. Eine Art Beschirmung macht dieser seltsame Dom. Vielleicht macht er still. Aber das hält so ein Tanz nicht aus oder die Menschheit, die er hier darstellen soll. Also singt die Schar, die das Wuppertaler Tanztheater hier ist, und so rennen sie und schwärmen herum, halten an, wiederholen sich, sinken, stehen auf, springen auch, rollen, kriechen, verausgaben sich, bleiben bei sich, veräußern sich, rücken ans Publikum heran, das ringsum sitzt, formen Paraden, Totentanzreihen, Narrenzüge, rempeln, ringen, tragen einander. Und wenn sie endlich nicht mehr singen, hört man die Orgel oder die Glocken oder beides. Das stürmt. Das tost wirklich.

und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde

Die liberté in der cathédrale beeindruckt, ja. Sie macht sich groß, die Unbescheidenheit ist wohl auch der Zweck dieser 26-köpfigen Tanzanstrengung. So analog und undigital, ließe sie sich auch eine Hommage an den ungefakten Menschen lesen. Die Inszenierung ist meistenteils gut gemacht, sie passt in ihre Zeit, auch indem alle als Solisten und gleichzeitig Teammitglieder auftreten und die Gruppe alters- und körperformenmäßig sehr gemischt ist; aber sie überrascht so wenig.

Das Werk beginnt mit einer Art Tinnitus-Orgelfiepen überm Zuschauerrhabarber und einer leeren Mitte, so schwefelgelb beleuchtet, dass alle Farben verschwinden. Sie endet, indem, nach dem Applaus, der Organist Jean-Baptiste Monnot dem Publikum Harmonisches mit auf den Weg gibt, hörbar noch in der Fachwerkhäuser-Gasse nebenan. Dazwischen spielen sich fünf Akte ab, von Lichtausschalten und Tänzerexit markiert.

Das Programmheft benennt und erläutert die Teile, von „Opus“ über „Geläut“, „To Whom the Bell Tolls“ bis „Stille“ und „Berühren“. Den erwähnten chorischen Gesang auf „la“, den die grandiose Akustik des 1966 erbauten katholischen Doms veredelt, kombiniert „Opus“ mit allgemeinem Laufen, Sinken, Rollen, Aufstehen, Wenden, Anhalten, Wiederloslaufen, pantomimischem Klamottenan- und ausziehen, Fäusterecken, Krabbeln, Schütteln. Die Töne, liest man nun später, rekapitulieren den zweiten Satz von Beethovens Klaviersonate Opus 111, Nicht-Melodien eines tauben Komponisten. Eine Gedächtnis-Meisterleistung der Tänzerschar. Doch als bewegtes Bild mit Ton, der auch mal zum fanmäßigen Gröhlen anschwillt und in lautes Flüstern mündet, lässt einen diese halbe Stunde kalt.

LiberteCathedrale_Boris-Charmatz@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit

Dann läuten die Glocken, so lange, dass es keine Viertelstunde meint, keine Einladung zum Gottesdienst, auch keine Katastrophenwarnung. Sondern vielleicht ihre eigene Freiheit von der Kathedrale. Es ist eine von Olivier Renouf arrangierte Aufnahme etlicher Glocken an unterschiedlichen Orten, die tiefe und mittelgroße tönen lässt, sowie helle kleine, die wie ein Glockenspiel klimpern. Die Glocken füllen mit Intervallen den Raum, mit einem ewigen Auf und Ab oder mit endlos wiederholten Schlägen, die Obertöne singen machen.

Die Tänzer sind Beiwerk. Rennen, wiederholen kurze Phrasen, Kopf runter, Ellbogen raus, paradieren im Kreis wie Figuren in Kirchenturm-Glockenspielen, aber in grotesk, schlenkern, zittern, verlieren scheinbar die Kontrolle, raufen sich zusammen und pendeln, mit Köpfen und Körpern. Hin und her und auf und ab. Allein oder zu zweit. Dann Sprünge, grobe Griffe, Liegen, Aufstehen, Ringen und Rabatz. Prozession. Bis einige Tänzer an den Betonwänden kleben, als hätte die Mitte sie ausgespien.

LiberteCathedrale_Boris-Charmatz@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit

Im dritten Akt ist es still, und die Münder stehen offen. Die Tänzergesichter schreien stumm, warnen ungehört oder staunen in die Höhe, die Oberkörper nach hinten gebeugt. Oder erinnern an Vogelkinder, die auf Futter warten, um den Altarquader herumgruppiert. Bis eine Tänzerin pantomimisch etwas erzählt, und ihr Kollege anklagend ins Publikum deutet und einen Dialog führt, der keiner ist, „Right? What? Hä?“. Worauf eine Art alberne Unterhaltungssendung folgt, eine Publikumsbespaßung mit Spagaten, Songs und Sätzen und Übergriffen per schwitzigem Hautkontakt, ohne zu fragen. Ein Reigen aus zur Mitte gebetenen Zuschauern muss im Chor singen. „No man is an island“, „jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents“. Ist von John Donne, klingt trotzdem kitschig.

Der Bezug zu Kirchenbauten, -skulpturen, Wasserspeiern, auch zu den Missbräuchen, den Menschenschafen durch die „Hirten“, ist erkennbar. Es geht hier fast illustrativ zu. Zumal im letzten Akt. Hier nun braust und brummt und dröhnt die Stockmann-Orgel. Phill Niblocks Komposition schmiedet dicke Akkorde, in die weitere Töne geschichtet werden; in dem Klang scheint alles aufgehoben zu sein, was je gesungen werden kann. Sirenenhaft wird er. Doch der Choreographie geht die Kunst aus: Tänzerinnen und Tänzer drücken gegeneinander, kriechen, purzeln, zitieren Ballett, heben jemanden auf die Schulter, ziehen sich aneinander hoch, drücken einander runter. Hieven, kippen, zerren.

LiberteCathedrale_Boris-Charmatz@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit

Charmatz, als Choreograf, ist ein Strukturierer. Wie eins aufs andere folgt, wie Szenen beginnen, sich entwickeln, sich gerade so lang ausdehnen, bis es dann auch mal genug ist, wie sie in die nächsten übergehen oder enden, dafür hat er meistens eine gute Hand. Er ordnet eine scheinbare Unordnung, knetet einen Strom von Phrasen, die nie zu Ereignissen werden. Oder nur knapp.

Man konnte in NRW ja schon einige seiner Werke sehen, als Gastspiele bei der Ruhrtriennale und in PACT Zollverein in Essen oder, etwas weiter weg, beim Tanzkongress in Hannover. Elemente daraus sind wiederzuerkennen. Wie in „enfant“ die Tänzer, Tänzerinnen und Maschinen schlaffe Körper von Kindern aufhoben und wie Material trugen; was sich später umkehrte. Wie sich in „manger“ die Tänzer krümmten und ihre Körper im Ganzen zu knuspern und zu mampfen schienen. Wie sie sich in „infini“ verausgabten beim Zählen, in „Levée des conflits“ beim Herumrasen, Strudeln, Straucheln. Und die „10000 Gesten“, die, nach viel Bewegungsgestöber, eindrucksvoll in eine musikalisch-religiöse Erhoben- und Ergriffenheit mündeten.

LiberteCathedrale_Boris-Charmatz@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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nicht viel anders oder moderner oder einfallsreicher als das, was in der „Szene“ längst gezeigt wird.

Tja, der Kontext: Hat man ein offenes Auge für das, was so viele freie Choreographinnen und Choreographen und ihre prekären Ensembles in NRW seit Jahren auf die Bühnen bringen, ist diese Charmatz-Kreation nur tänzer- und zeitbudgetmäßig größer bestückt, aber nicht viel anders oder moderner oder einfallsreicher als das, was in der „Szene“ längst gezeigt wird.

FOLGETERMINE:     Im Mariendom Neviges: 9., 10. 12., 13., 15. und 16.September, jeweils um 20 Uhr

LiberteCathedrale_Boris-Charmatz@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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