First-Steps-Finale: Josefine Patzelt und „Letters to a Grandfather“ in der Krefelder Fabrik Heeder

Josefine Patzelt tanzt „Letters to a Grandfather“

Nachtkritik von Bettina Trouwborst

Sie schweigen, die Opas und Omas. Sie waren Zeugen der NS-Zeit als Täter, Mitläufer oder – Opfer. Doch sie wollen nicht darüber sprechen. All die Jahre und Jahrzehnte. Und während die Zahl der Zeitzeugen jener Gräueltaten schwindet, wächst das nationalistische Gedankengut seit Jahren stetig an. Fast überall auf der Welt, auch in Deutschland. Die Choreografin und Tänzerin Josefine Patzelt denkt in ihrer Solo-Performance „Letters to a Grandfather“ in der Fabrik Heeder über die Rolle der Enkel-Generation nach. Hat diese die Schuld der Opas geerbt? Zum Abschluss der Reihe First and Further Steps des Krefelder Kulturbüros für den choreografischen Nachwuchs der Freien Szene behandelt Patzelt ein schweres, hochpolitisches Thema, wie man es selten im Tanz findet. Ihre Partnerin Lenah Flaig, mit der sie 2016 das Kollektiv „flies&tales“ gründete, bleibt diesmal in der Rolle der dramaturgischen Begleitung.

Letters to a grandfather_Josephine-Patzelt©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Letters to a grandfather_Josephine-Patzelt©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Josefine Patzelt setzte sich erst nach dem Tod ihres Großvaters mit der Vergangenheit und dem eigenen historisch-moralischen Erbe auseinander, offenbar bis ihr der Kopf rauschte. Denn auf der Bühne macht sie sich, umhergetrieben von Gedanken- und Erinnerungsfetzen aus dem Off, auf Spurensuche  – auch buchstäblich mit einer Taschenlampe im Dunkeln.  Grandios, wie sie ihre Verwirrung und Hilflosigkeit in Tanz, Mimik und einem überzeugenden Monolog in eigener Sache formuliert. Später befragt sie in einem Video Töchter und Söhne, Enkelinnen und Enkel nach ihren Erfahrungen und Befindlichkeiten.

„Letters to a Grandfather“ ist eine wunderbare Arbeit, die nicht nur inhaltlich aus dem Rahmen fällt, sondern beweist, dass Patzelt eine vielversprechende Choreografin und – einmal mehr – fantastische Tänzerin ist. Dramaturgisch allerdings hapert es: Jammerschade, dass Patzelt den richtigen Zeitpunkt verpasst, ihre Performance zu beenden. So kreist sie in der letzten Viertelstunde nur um sich selbst – das Stück zerfasert. Unterm Strich aber bleibt eine ernsthafte Arbeit, die über weite Strecken packt und fasziniert. Und immer wieder Fragen stellt.

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

Das Fragment einer weißen Mauer ist im hinteren, rechten Teil der Bühne (Luka Patzelt) aufgebaut. Die symbolische Mauer des Schweigens? Patzelt steht davor und spricht, für das Publikum kaum verständlich, einige Sätze. „Es ist ein zweischneidiges Schwert“ dringt wiederholt durch. Später wird sie, Stein für Stein, diese Wand beinah liebevoll abtragen – doch zufrieden ist sie mit den zwei wohlsortierten Trümmerhaufen nicht. In der anderen hinteren Ecke hat sich gemütliche Nostalgie eingerichtet: ein Ohrensessel mit Tischchen, Kaffee und Kuchen darauf, eine Stehlampe aus den 1950er Jahren, inszeniert auf einem altmodischen Teppich wie auf einer Insel. Patzelt wirft sich in einer beeindruckenden Sequenz in immer neuen Varianten in den Sessel, beinah akrobatisch. Sie schwebt horizontal, gestützt von den Armlehnen, über der Sitzfläche, wirft sich über die Rückenlehne hinein und findet zahllose tänzerische Posen auf Opas Lieblingsplatz. Schade, dass die Szene so weit im Hintergrund spielt. Gerne hätte man Patzelt aus der Nähe zugeschaut.

Zuvor tanzt sie sich ihre Seelennot aus dem Körper. Das zeitgenössische Vokabular, basierend auf dem akademischen Ballett, hat sie in jüngster Zeit um urbanen Tanz deutlich erweitert. Glaubhaft zerrissen windet die Kölnerin sich am Boden zu einer rhythmischen Soundcollage (Eric Eggert). Ihre zentrale Geste, die sich durch das ganze Stück wie ein roter Faden zieht, ist die ausgestreckte Hand, ja, der ins Publikum gestreckte Arm, mit dem sie offensichtlich die Kluft zwischen damals und heute, Fragen und Antworten zu überbrücken sucht. Doch der Körper gleitet weg, zögert, zittert, zieht sich zurück. Es sind ihre enorme Bewegungsqualität, die choreografische Originalität und Vielseitigkeit in Verbindung mit der inhaltlichen Substanz, die diese jüngste Arbeit – uraufgeführt per Livestream während des Lockdowns vor einem Jahr – zu einem Ereignis machen.

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

Das auf die Mauer projizierte Video mit den befragten Köpfen, junge wie ältere Menschen, ist eine spannende Ergänzung. Eine alte Dame berichtet davon, wie sie ihrem Vater immer wieder die Frage stellte, ob er jemanden getötet habe. Doch sie habe niemals eine Antwort erhalten. Eine andere Frau berichtet davon, wie ihre Schwester sie davon abgehalten habe, Fragen an die Eltern zu stellen. Begründung: sie dürfe die Mama nicht quälen. Die jüngeren Frauen und Männer haben an sich selbst Verhaltensweisen entdeckt, die sie von ihren Eltern unbewusst übernommen haben. Ein junger Vater geht mit sich selbst ins Gericht, weil er sein strenges Verhalten den eigenen Kindern eigentlich nicht zumuten wolle. Interessante Einsichten.

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

An dieser Stelle hätte die Schlusssequenz perfekt gepasst: Die Protagonistin, nun in Boxershorts und Top, spielt erschöpft auf einer Melodica eine traurige, monotone Tonfolge. Sie klingt nach Resignation – die Nationalismen sind in der Welt und es ist ihnen nicht beizukommen. Doch stattdessen ziehen mehrere Soli das Stück in die Länge. Eine angestrengte Szene mit angedeuteten Schreien und die Sequenz vor einem bunten Video, mit dem der Körper geradezu verschmilzt, bringen dem Tanz-Theater-Stück keinen inhaltlichen oder ästhetischen Gewinn mehr.

Als Patzelt schließlich erschöpft mit ihrer Melodica am Boden liegt, lässt sich der Schlussapplaus nicht mehr aufhalten: Respekt und Begeisterung für „Letters to a Grandfather“.

Letters to my grandfather_Josefine Patzelt©TANZweb.org_Klaus Dilger

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