Peeping Tom mit „S 62° 58’, W 60° 39’“ in Köln

Den Tiefsinn schlachten

von Melanie Suchy

Das neue Stück von Peeping Tom, der berühmten Company von Franck Chartier und Gabriela Carrizo, hatte im September in Lyon Premiere. Es reiste nach Spanien, Luxemburg, Italien und erreichte jetzt schon Köln. Nach 110 Minuten hinterließ es ein verdutztes und begeistertes Publikum im Schauspiel Köln im Depot 1. Nur Chartier zeichnete diesmal für Konzeption und Regie, es gibt fast keinen Tanz, doch umso mehr Worte. Der Titel ist zwar unaussprechlich: „S 62° 58’, W 60° 39’“. Aber das Ganze ist eine Wucht.

Was wollt ihr im Theater? Gefühle? Hier habt ihr Gefühle, sogar echte. Auch unangenehme. Ihr wollt Bühnenbild? Wir geben Euch Bühnenbild, großes Kino oder Historiengemälde: ein Eismeer, in dem ein Schiff steckengeblieben ist mitsamt einer untauglichen Besatzung, dazu viel Nebel. Ihr wollt Sinnbild? Hier ist es, das Scheitern, das zum Weitermachen aufruft irgendwie. Ihr wollt Brüche außer diejenigen im Schaumstoffpackeis? Aber klar, das Heraustreten der Darstellerinnen und Darsteller aus ihren Rollen wird zum eigentlichen Drama. Mehr noch: Die Katastrophe ist nicht das Überwintern im Nirgendwo auf der Position „S 62° 58’, W 60° 39’“, das Frieren, Warten, Hungern, Sterben. Sondern die Unzufriedenheit der Menschen mit ihren Rollen in dem Spiel oder Stück. Es wird gejammert, gemeckert und geheult, so dass es dem Eis wahrscheinlich leid tut, dass es das Schiff eingequetscht hat. Aber da kommt es jetzt nicht mehr raus.

Chartiers Wrackstück lässt sich als Liebeserklärung ans Theater, ans Spiel und dessen Magie betrachten; gleichzeitig als sein Abgesang, also als Ausdruck eines furchtbar tiefen Zweifels an der Sinnhaftigkeit von Kunst angesichts der Katastrophen in der Welt „da draußen“ (die auch, aber nicht nur das Packeis betreffen). Aber diese Zweifel sind vielleicht auch nur schick und gehören zur „Performance“ eines Künstlers, damit er heutzutage sein Geld wert ist. Der hier, der als Regisseur, „Franck“ genannt, sozusagen körperlos zuweilen aus dem Lautsprecher in Richtung Bühne lamentiert und kommandiert, ist ja Teil der Kreation, die ihr Gemachtsein offenlegt, aber dabei auch nur so tut als ob. Das ist für Peeping Tom ein neuer, unerwarteter, kritischer Dreh, der die Gemütlichkeit beim Anschauen stört und konsequenterweise die Erwartung hurtig herumrollenden Tanzes auch nur ein einziges Mal befriedigt.

Wo sind wir hier?

Von dem Schiff oder Boot ist beim Vorhangaufgang nur noch eine kleine Kabine sichtbar, ein winziges Deck mit Bänkchen und Tisch, eine Mini-Reling, ein dünner Mast mit einem Segel. Es schwankt knarzend auf und ab, während man ein Gluckern hört, als sei es gar unter Wasser gelandet und läge auf dem sandigen Grund im atmenden Ozean. Alles, was folgt als zerfaserte Geschichte, aufs Eis gelegt, auf die Oberfläche, wo Wind bläst, Gewitter grollt und blitzt, Möwen von ferne kreischen und Seile an Metall dengeln, das könnte also ein Traum sein: Es gäbe Überlebende, vielleicht eine Chance.

Wo diese sechs Leute mal hinwollten, davon ist nie die Rede. Ein Mann müht sich umsonst mit einem Seil, das Boot vorwärts zu ziehen. Ein Kind in Unterhemd sitzt auf der Deckkante, schaut in die Ferne, kippt, verschwindet mit einem Platsch unterm Eis. Im Wasser, ergänzt das hörende Zuschauerhirn. Ein Mann im Taucheranzug hievt das Kind heraus. Fortan ist es weiterhin stumm, ist schlaff wie leblos, wird getragen, hingelegt, geherzt, betrauert, zwischendurch vergessen. Es nickt, als es in einer Art Probenpause als „Franck“ gefragt wird, ob es später Schauspieler werden wolle oder besser Regisseur, gar der neue Chef von Peeping Tom. Ja, ja, ja. Ein braves Kind. Stures Kind, träumendes Kind.

S-62°-58′-W-60°-39′-©-Sabine-Greppo-Peeping-Tom

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Wo geht es hin?

Der Taucher entpuppt sich als leidender Mann, der auf Deck das klingelnde Telefon abnimmt und ein Baby mal weinen, mal quietschend juchzen hört, „my son“. Der Vater beschimpft und beklagt sich, er sei kein guter Vater, nie da, „immer auf Tour“, sehe sein Kind nie einschlafen. Bald wird klar, dass er nicht als Segler spricht, sondern als Schauspieler, der nun gegen seinen Chef rebelliert und unter Protest Bühne und Saal verlässt. Der Tänzer Romeu Runa verkörpert den Papa, das schlechte Gewissen, das Selbstmitleid so, dass es einem, obwohl es nervt, auch zu Herzen geht. An den Klischee-Sätzen und den Gefühlen ist ja was dran. Sie treffen wohl auch auf Chartier selber zu, der tatsächlich Vater ist und früher sogar sein und Carrizos Baby in ein Stück einbaute. Dass Chartier mit den Leuten im Wrack auf Eis seine eigenen Probleme oder Traumata inszeniere, und zwar auch schon in früheren Stücken, das wirft ihm die Schauspielermannfrauschaft später dann auch vor, aufgereiht an der Rampe. „Und immer das tote Kind“, nörgelt Mimi alias Marie Gyselbrecht.

Diese Mimi kam im fischig blauglitzernden Abendkleidchen überm Schwangerenbauch aufs Eis gestöckelt. Sie ist zu spät, das Hundchen in ihrem Arm sei krank. Später trägt sie ein Pina-Bausch-haftes weißes Nachtkleidchen und rutscht auf dem schrägen Deck mitsamt Kind und Mann rauf und runter. Sie schluchzt und leidet grandios. Und beschwert sich bei „Franck“, dass er sie seit 15 Jahren bei Peeping Tom immer nur zweidimensional inszeniere als leidende Frau, als Opfer. „Ich will aber dreidimensional sein!“.

Die andere Frau an Deck, im weißen Kittel mit Brille oder im mausbraunen Kleidchen, ist wohl eine Ärztin oder Wissenschaftlerin, dargestellt von Lauren Langlois. Sie fordert „Franck“ auf, das „Skript“ zu ändern, „warum nicht!?“, am Ende Hoffnung zu machen statt alle sterben zu lassen, und ein deutliches Statement gegen Umweltsünden zu setzen. Das gibt sie dann selber ab mit einem wütenden Vortrag über den aussterbenden Papageienfisch im Korallenriff. Und überhaupt sei auf der Bühne zu viel Plastik. Das Eis! Mimis Umschnallbauch. Der Fisch.

Arten des Sterbens

Der Fisch, schön wabbelig aus Stoff, „aus Polyester!“, lebt zunächst und lädt den Angler Chey Jurado zum Tanz. Ein Flitschen, Fliegen, Stürzen, Schnappen, Herumgerissenwerden folgt, höchst virtuos. Als der Kollege das Tier brutal aufs Eis klatscht, versucht Langlois ihn wie einen Menschen wiederzubeleben. Pumpt und beatmet. Der Humor hält das Stück am Leben.

Der Regie-Franck rächt sich an der Renitenz der jungen Australierin und fordert eine Art Seelenstriptease von „Lauren“, indem sie einem Gefühl nachspürt, bohrt, so dass sie ihre Einsamkeit zutage befördert, beschreibt, traurig wird. Bei allem Witz, den das Stück einstreut: Die Oberregie und die Darsteller führen die Trauer- und Wutgefühle nicht als lächerlich vor.

S-62°-58′-W-60°-39′-©-Sabine-Greppo-Peeping-Tom

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Mayday, Mayday!

Aus dem Nichts erscheint ein Mann in kurzen Hosen, Blumenhemd, mit Koffer, Sam Louwyck, und gibt sich als „Laurens“ Vater aus, also aus Australien, der anderen Seite des Globus oder der umgekehrten Welt. Er picknickt auf dem Eis wie am Strand, liest „Playboy“. Als er doch im Eisloch landet, herausgefischt und aufgetischt wird, bricht das skriptmäßig für ihn hier vorgesehene Schicksal ab.

Die Figuren auf dem Eis und das Schauspielergetue rutschen ineinander wie ein ständiges Ja-Aber. Das Stück kommt scheinbar nicht von der Stelle auf seiner Reise. Als Zuschauerin ertappt man sich beim freudigen Versinken in der Theatermagie, zu der die sorgfältig komponierten Sounds von Raphaëlle Latini samt Barockmusik mit Streichern, Barockcembalo oder Klavier, und das stimmungsbestimmende Lichtdesign von Tom Visser beitragen. Die wunderliche Situation, das Surreale. Die herrlichen und schön albernen szenischen Einfälle, wie die dampfende Eislücke, die in der Probenpause zur warmen Wanne wird, oder das „Eisberg spielen“ mit dem Kopf in einem dicken Styroporkranz.

Wie in Erinnerung an Peeping Toms legendäres Stück in Eislandschaft, „32 Rue Vandenbranden“, widersetzt sich ein Koffer hier dem Getragenwerden. Damals bliebt er scheinbar in der Luft stecken, ein fröhlicher Pantomimetrick; diesmal ruckt er nur ein bisschen, gegen Ende, wenn alle grauschwarz werden wie das Ensemble im unvergesslichen „May Be“ von Maguy Marin.

Mayday, Mayday

Man entdeckt Referenzen, typisch Theater: an die Tänzerin in Alain Platels „Wolf“ mit dem, damals lebendigen, Hündchen im Badekostüm vorm Bauch; Tony Rizzi im Schneemannkostüm im Solo mit Mutter, als „Snowman sinking“; Kate MacIntosh mit dem Mikrofon am sehr langen Stab, mit dem sie die Stille abhört – hier ist es eine Art Antenne, die Chey Jurado auf dem Kabinendach balanciert. Aus dem Ballett „Romeo und Julia“ wird die Grabesszene geklaubt: Er betrauert sie als vermeintlich Tote, „Warum sie? Aaaaaaa“, stirbt deswegen selber willig, schmilzt ruckartig, worauf sie, Lauren Langlois, erwacht und wiederum seinen Tod beklagt, er sei doch der einzige gewesen, der sie bedingungslos geliebt habe. Meint hier aber eher den Vater.

Auch schwimmen in dem Stück Erinnerungen an frühere Peeping-Tom-Kreationen mit. Der apokalyptische Untergang von „The hidden floor“, die Kälte, das Piano, das Vater-Sohn-Ding. Der innige Mann-Frau-Kuss aus „Le Jardin“, der diesmal nicht zum auf dem Rasen mit superbiegsamen Rücken rollenden Duett, sondern nur versucht, dann verweigert wird, „es funktioniert nicht“. Das Singen. Die Unterwäsche, die der liebeserhitzte Einwanderer in „32 Rue Vandenbranden“ trug, diesmal das deplatzierte Kind. Familie, Generationen, Sterben, Erben, Verbergen und plötzliches Erscheinen spielten immerzu mit.

Kälte, Dampf, Hitze

„S 62° 58‘, W 60° 39‘“ definiert vielleicht die Position einer Insel. Die Spitze eines Eisbergs? Darunter, eher indirekt, zeigt das Stück den gefährlichen Zustand der Welt, klagt die Untätigkeit eigentlich handlungsfähiger Menschen an – siehe die Klimakonferenz dieser Tage. Die Katastrophe ist längst da, es geht ums physische Überleben der Menschheit, aber Einzelne, zumindest in unseren Breitengraden, beschäftigen sich eher mit ihren persönlichen Befindlichkeiten. Das Stück sagt aber auch: Ist verständlich, all das Beleidigt- und Empörtsein, die Rebellion gegen einen Vater, der von oben, vom Regiepult aus, den Ablauf des Geschehens vorgibt. Selbst das abschließende oder aufschließende Stör-Solo Romeo Runas, der den Kosmos Peeping Tom aufbricht, redet vom Theater und dem Stück, das unendlich sein sollte, nicht vom großen Ganzen. Nur einmal: „Ist denn die Welt da draußen besser sei als die hier drinnen?“ Also: Reingehen!

In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln.

Weitere Aufführungen: Heute um 19.30 Uhr im Depot 1 des Kölner Schauspielhauses.

S 62° 58’, W 60° 39’ © Olympte Tits, Peeping Tom (w. Chey Jurado)

S 62° 58’, W 60° 39’ © Olympte Tits, Peeping Tom (w. Chey Jurado)