First and Further Steps 2024

NACHTTARIF

Mira Rosa Plikat & Colaborators eröffnen mit „Nachttarif“ First & Further Steps in Krefeld

Von Bettina Trouwborst

Eine Haltestelle in der Nacht. Eine Frau sitzt unter einem Neonlicht-Rechteck auf einer Bank und wartet. Einer Bank? Zwei Männer im Vierfüßlerstand, die Köpfe jeweils unter einer Schulter des anderen vergraben, bilden die Sitzfläche. Ein surreales Bild, das auseinanderfällt, als die Beteiligten sich in Zeitlupe über den Boden rollen lassen. Sie starren lange ins Publikum – offensiv, neugierig, schlecht gelaunt, vieldeutig. Überhaupt wechselt die Stimmung ständig: Per „Nachttarif“ reisen die drei Gestalten in sämtlichen Konstellationen durch die Nacht und durchleben Momente zwischen Aggression und Absurdität.

Mira Rosa Plikat & Colaborators – das sind Plikat und die beiden Tänzer und Co-Choreografen Ken Konishi und Kilian Löderbusch. Seit 2020 firmiert das Trio unter dem Label. „Nachttarif“ ist Plikats erste abendfüllende Performance. Es ist eine Dreiviertelstunde voller Höhen und Tiefen. Originelle Einfälle, inspiriert von bildender Kunst und verschiedenen Tanzstilen, wechseln sich ab mit zerdehnter Zeit. Es strengt an, dieses Gefälle zu verfolgen: Manchmal gibt es Stillstand jenseits jeder choreografischen Sinnhaftigkeit. Und dann bewegen sich die drei Akteure grandios, erzeugen Bilder von großer kreativer Kraft, humorvoll, sinnlich und hintergründig zugleich.

Mira Rosa Plikat & Colaborators_NACHTTARIF©TANZweb.org.gUG_Klaus Dilger

Drei Individualisten: die Frau (Plikat) im dicken Pulli und Halbstiefeln mit finsterem Blick, ein sportlicher Typ (Konishi) in Trainingsjacke und Sneakers, ein Typ Kategorie divers mit smaragdgrünem Seidenshirt (Löderbusch), heller Bundfaltenhose, Slippers und schwarzem Handtäschchen. Jeder ist zudem durch seinen Tanzstil charakterisiert. Plikat überwiegend zeitgenössisch, Konishi mit Hip-Hop-Elementen, Löderbusch tanzt hinreißend selbstverloren Disco-Dance.

„Nachttarif“ bleibt nicht an der Oberfläche. Es geht um Einsamkeit, Isolation, Sehnsüchte. Die Blicke wandern untereinander hin und her, voller Misstrauen, aber auch Neugier. Man imitiert einander, will gefallen. Wenn sich zunächst Plikat und Konishi finden, bleibt Löderbusch allein. Wütend versucht er, die beiden zu trennen. Erst mit roher Gewalt, dann klettert er auf ihre Schultern. Als das Paar sich entkleidet, steht es im gleichen Outfit da wie der Disco-Mover, Handtaschen inklusive. Ein beredtes Bild.

Die vielseitige Ausbildung der Choreografin, Tänzerin, Tanz- und Sozialpädagogin Mira Rosa Plikat, Jahrgang 1990, ist deutlich. An der Universität Dortmund studierte die Essenerin Psychologie und visuelle Kunst mit Schwerpunkt Malerei – was sich in den skulpturalen, eingefrorenen Bildern des Trios von „Nachttarif“ niederschlägt. Anschließend nahm die Nachwuchskünstlerin eine Tanzausbildung bei Danceworks in Berlin auf. Dann wechselte sie nach Köln, um ein Studium am Zentrum für Zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Tanz Köln zu absolvieren. Auch Plikats Hip-Hop-Zeit merkt man „Nachttarif“ an. Denn die Westdeutsche Meisterin von 2009 verbindet das Zeitgenössische und die malerischen Posen mit abrupten Moves, Sprüngen und Drehungen, die dann zur komplexen Körperskulptur einfrieren.

Die beste Szene gelingt, als die beiden Tänzer wieder die Bank machen. Mira Rosa Plikat lässt sich darauf nieder und futtert – vermutlich – Chips aus ihrem schwarzen Handtäschchen. Man denkt an die legendäre Orgasmus-Szene aus dem Kinofilm „Harry und Sally“, wenn sie erst genüsslich, dann lustvoll und schließlich offen wollüstig stöhnend das Salzgebäck immer gieriger in sich hineinstopft. Dabei verrutscht sie auf den sich bewegenden Rücken in immer laszivere Positionen. Großartig.

Am Ende hockt der Sportler auf den Rücken der anderen. Es ist still. Die unaufdringliche Soundcollage ist verklungen. Er macht ein nachdenkliches Gesicht. Alles nur geträumt?