„IF IT WERE LOVE“

Gisèle Vienne’s CROWD wird in Patric Chihas Film zu einem spannenden Zeitdokument

Tanzrauschen e.V. zeigte den Film im Rahmen seiner 10jährigen Bestehensfeier im Wuppertaler REX mit anschliessender Gesprächsrunde und den Podiumsgästen SOPHIE DEMEYER / Performerin CROWD, Julie Shanahan / Tänzerin und Performerin. Barbara Kaufmann / Tänzerin und Performerin, Moderation Nelly Köster

Besprechung von Klaus Dilger

Gisèle Vienne war mit ihrer (wenig überzeugenden) Produktion „EXTRA LIFE“ zur vergangenen Ruhrtriennale eingeladen (wir berichteten). Umso gespannter durften wir auf den Film über eines ihrer älteren Werke, „CROWD“ aus dem Jahr 2017 sein, denn von irgendwo und etwas muss sich der Hype um die österreichisch-französische Regisseurin ja nähren.
Um es abzukürzen: eine Antwort hierauf lieferte „IF IT WERE LOVE“ nicht. Vielmehr machte Patric Chiha’s, keineswegs dokumentarischer, sondern genuin eigenständig künstlerischer Film deutlich, weshalb Gisèle Vienne’s CROWD, trotz zahlreicher Gastspieleinladungen, als Bühnenstück kaum, wohl aber in dieser Kunstform wird tragen können. Vienne hatte in einem Interview einmal gesagt, dass sie ihr Stück wie fünfzehn verschiedene Tonspuren sieht, die alle übereinander gelagert seien und erst durch die Modulation der Lautstärke als Geschichten heraustreten könnten.

Der Film beginnt mit einer typischen Backstage-Situation: Die Performerinnen und Performer sind geschminkt und tragen ihre Kostüme. Ein Bühnenhelfer wartet in den Gassen, die im Theater „wings“, also Flügel genannt werden, um sie einzeln mit einer fein zerstäubten Flüssigkeit aus dem manuellen Hochdruckbehältnis zu besprühen. Dieser Wasser?film soll ihnen vermutlich ein durchschwitztes Aussehen verleihen, erinnert jedoch an Schutz und Desinfektion. Die Tänzerinnen und Tänzer sind konzentriert, teils im jeweiligen Tunnel vor dem Auftritt versunken, andere wechseln noch ein paar Worte mit dem Kollegen oder der Kollegin, dann verwischt sich das Bild an einer dunklen Grenzen, ehe sie…, ja was eigentlich?

Der Film vermeidet es, den Schritt auf die, besser auf eine Bühne zu zeigen, vielmehr beobachtet er in der folgenden Einstellung sehr lange Minuten die fünfzehn Protagonisten, the CROWD, wie sie sich in verlangsamter Form zu Techno-Beats bewegen, sich in Slow Motion berühren, sich entfernen, wieder angezogen werden, voneinander, vom mit Erde bedeckten Boden.

„Slower“, „Feel the ground, feel the weight“, „Yes, nice, … very nice“. Gisèle Vienne dirigiert das Geschehen mit sanfter Stimme und Mikrofon, greift ein, greift zu, berührt ihre Tänzer und Tänzerinnen, wird Mitwirkende, wenn ihr die körperlichen Annäherungen nicht intensiv genug erscheinen.

Ein Tänzer ist ausgestiegen, erklärt, dass er Abstand brauche, ihm die Gefühle zu viel geworden seien, er reflektieren müsse. Vienne überhört das, wohl ganz bewusst, bedrängt ihn, legt ihm Hand auf die Brust, berührt ihn, intensiv, spricht, drängt sich weiter und wieder an ihn, erklärt, berührt…

SCDLA_(c)_ImmerGuteFilme_

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Grenzen überschreiten, spielen damit und mit der Gefahr, zu weit zu gehen.

Die Gruppe bewegt sich immer weiter, Slow Motion zu 138BpM, plötzliche Eruptionen, wahnsinnig schnelle Bewegungsabfolgen auf engstem Raum, Aggressionen einzelner Individuen oder sind es Kampfrituale in einem fiktiven Club? Ist das noch Probe, ist das überhaupt eine Probe oder befinden wir uns nicht längst schon in der Performance? Intensive Großaufnahmen, Gesten, Blicke, Körpersprache, verleihen dem Geschehen Spannung und dem Raum Architektur.

Cut. Eine Maskenbildnerin, die eigentlich ebenfalls Tänzerin ist, versucht einem Kollegen, einer Kollegin, ein Tattoo zu stempeln und nachzuzeichnen. Sie plaudern, vertraut, locker, wir erfahren ihre Namen, die Flirts, die Abenteuer der letzten Nacht, wie und ob sich Partnerin oder Partner dabei betrogen fühlen, durch und mit den Ritualen der Nacht. Sie sprechen über Gefühle, ihre eigenen, die der anderen und dies alles mit grosser Behut- und Achtsamkeit. Wir werden als Zuschauende mit einbezogen in die Tiefe der Gefühle und Gedanken von Philip (Berlin), Marine (Chesnais), Kerstin (Daley-Baradel), Sylvain (Decloitre), Sophie (Demeyer), Vincent (Dupuy), Massimo (Fusco,) Nuria (Guiu Sagarra), Rehin (Hollant), Antoine (Horde), Georges (Labbat), Theo (Livesey), Louise (Perming), Katia (Petrowick), Richard (Pierre), Anja (Röttgerkamp), Jonathan (Schatz), Gisèle (Vienne), Henrietta (Wallberg), Tyra (Wigg) und Oskar (Landström), der als „Nazi-Oskar“ die einzige Person des Films bleiben wird, der eine Rolle erkennbar zugewiesen wird.

Vielleicht gerade, weil damit eine Fallhöhe erzeugt wird, wenn er über seine Liebe zu einem schwulen Mann spricht und dies mit einer berührenden, beinahe atemberaubenden Tiefe und Sensibilität, wie sie die wenigsten im Zuschauerraum des Films bisher gehört haben dürften.

Den Wechsel zwischen Slow-Motion-Ritualen, Stakkato artigen Bewegungsausbrüche, Dialogen und Monologen behält der Film die ganzen 80 Minuten bei. Jede und Jeder tritt so mit seinem, ihrem Leben aus der Menge, der CROWD, heraus, wird greif- und begreifbar.
Doch die scheinbaren Wechsel zwischen den Grenzen des Spiels, der Performance, und dem Leben seiner Darstellerinnen und Darsteller, entpuppt sich nach und nach als Finte: Alle Figuren hat Gisèle Vienne zusammen mit den Tänzerinnen und Tänzern sowie dem US-amerikanischen Autor Dennis Cooper komplett ausgearbeitet.

Diese Erkenntnis ist faszinierend und erschütternd zugleich, legt sie doch unser aller Verführbarkeit bloß. Sie unterstreicht aber auch eine herausragende Leistung und Qualität aller Beteiligten.

Ab März kommenden Jahres findet der vielfach ausgezeichnete (Tanz)Film aus dem Jahr 2020 endlich seinen Weg in die deutschen Kinos, dem Wuppertaler Verleih IMMERguteFILME sei Dank.

Auszug aus dem Interview mit Regisseur Patric Chiha:

Der Film ist weit davon entfernt eine einfache Verfilmung
des Stückes zu sein, er ist eine Reflexion darüber,
was einen Tänzer, einen Schauspieler, ein Ensemble
ausmacht. Haben Sie von Anfang an so darüber gedacht
oder hat es sich während der Schnittphase herauskristallisiert?

Die Themen tauchten erst später auf, während der Dreharbeiten
und vor allem während des Schnitts: die Company,
die Arbeit, die Gesichter, das Feiern, die subjektive Wahrnehmung
der Zeit … Aber irgendwann wusste ich, dass
das wichtigste Thema die Schauspielerei sein würde, wie
man eine Figur und ihr Geheimnis erschaffen kann.
„Crowd“ ist ein getanztes Stück ohne Worte, aber jeder
Tänzer hat – in Zusammenarbeit mit Gisèle und dem
Schriftsteller Dennis Cooper – eine Geschichte, ein Skript,
eine Vergangenheit, eine Reise, die ihm hilft, seinen Charakter
aufzubauen … Es ist eine ungewöhnliche und seltene
Herangehensweise an das Tanzen: Es hinterfragt auf
faszinierende Weise den kreativen Prozess. Wie erschaffen
wir eine fiktive Figur? Was sind die Werkzeuge? Wo ist
die Wahrheit und wo ist die Schauspielerei? Und gibt es
eine klare Grenze zwischen diesen beiden? Indem wir das
Schauspiel in Frage stellten, versuchten wir nicht, etwas
zu enthüllen oder zu erklären was weder die Tänzer noch
wir vollständig analysieren können, sondern wir wollten
diesen verschwommenen Zustand zeigen, der einer Trance
sehr nahe kommt und zwischen Realität, Traum und
Fantasie erscheint.
Das ganze Interview bei tanzrauschen:  (https://tanzrauschen.de/Projekte/Premiere/category/if-it-were-love)