Wiederaufnahme von VIKTOR – Tanzstück von Pina Bausch
„Der Tod ist allgegenwärtig…“
Am 26.Juni feierte die Wiederaufnahme des zuletzt in 2017 gezeigten Pina Bausch Stückes aus dem Jahr 1986 Premiere mit einer neuen Besetzung und Breanna O’Mara und Scott Jennings als Gästen, die das Stück in seiner letzten Aufnahme nachhaltig geprägt hatten
Nachtkritik von Klaus Dilger
Prägendes Bühnenbild
Was immer Pina Bausch und ihren genialen Szenenbildner Peter Pabst ursprünglich dazu veranlasst haben mögen, die Bühne mit sechs Meter hohen, rotbraunen Erdmauern zu umgeben und möge es tatsächlich eine ähnlich aussehende Spielstätte auf der Gastspielreise gewesen sein, wie manche behaupten – nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986, nur wenige Tage vor der Uraufführung von „VIKTOR“ in Wuppertal, musste sich diese Bühne anfühlen wie der Grund eines Massengrabes, aus dem die Bausch ihr Panoptikum an mehr oder minder verlorenen Seelen auferstehen oder darin versinken lässt.
Achtunddreissig Jahre später ist es nicht mehr die radioaktiv verseuchte Wolke, die sich, von der Ukraine her kommend, todbringend über Europa verbreitet, es ist der Hauch des Krieges, nachdem Putins Russland das Land vor mehr als zwei Jahren überfallen hat, der den Tod allgegenwärtig werden lässt. Und merkwürdig tot fühlt sich auf der Bühne selbst das an, was vom Leben übrig geblieben ist – und von der Liebe (und wohl auch vom Bewusstsein und Gedächtnis der Zuschauenden).
Die Einzigen, die in Bausch’s VIKTOR vielleicht ein Paar sein wollten, liegen schon tot auf der Bühne und werden gleich zu Beginn des Stückes (und noch einmal in einer Wiederholung ganz am Schluss) von einem Standesbeamten oder Seelsorger, sozusagen post mortem, getraut, nachdem Julie Shanahan, armlos wie eine Schneiderpuppe, ein elegantes rotes Kleid, im ersten Bild, stumm an die Bühnenrampe getrippelt hatte.
Damals, angesichts der Katastrophe von Tschernobyl, konnten die Zuschauer wohl den Auftakt einer postatomaren Modenschau darin sehen, die dem nachfolgenden assoziativen Erinnerungs- und Rollen-Reigen den skurilen Rahmen vorgab, der sich bald zum fulminanten Bühnenspektakel weiter entwickelt, mit einer Blanca Noguerol Ramirez als Auktionsleiterin (hervorragend in der Rolle von Silvia Kesselheim), die in atemberaubendem Tempo ihre Kollegen über die Bühne jagt, um die Erinnerungs- oder Ausgrabungsgegenstände, die sie präsentieren, zu verramschen.
Währenddessen versucht Michael Strecker im Zuschauerraum ein paar Abnehmer für mutmaßlich windige Geschäfte zu gewinnen und trägt so, wie später auch die Tänzerinnen und Tänzer, die paarweise in einer langen Linie durch die frei gebliebene sechste Zuschauerreihe tanzen, das Bühnengeschehen ins Parkett des Opernhauses. (Zu Beginn des Tanztheaters der achtziger Jahre noch ein probates Mittel, um die „vierte Wand“ nieder zu reissen)
Im Massengrab
Hoch oben über der Bühne, vom Rand des Abgrunds, beginnt Andrey Berezin bedächtig und in kleinen Dosierungen das unter ihm liegende Grab zuzuschaufeln.
Wo Shanahan (- am Premierenabend eine Klasse für sich -) armlos trippelte, peitscht sich dann die ebenfalls herausragende Breanna O’Mara beinlos mit ihren weiten und wilden Bewegungsfolgen von Armen und Oberkörper an die Bühnenrampe.
„Ich heisse Viktor und bin wieder da…“ outet eine dunkle Offstimme zur Lippenbewegung von O’Mara, sie als eine von einem Geist namens „Viktor“ Besessene, dem das Stück offensichtlich seinen Namen verdankt. Er wird die junge, elfenhaft wirkende Frau ein ums andere Mal in einen wilden Sitztanz treiben, in dem ihre langen rotblonden Haare mit ihren endlos langen Armen und ihrem beweglichen Oberkörper den leblos scheinenden Unterkörper vorantreiben.
Bausch erfindet starke Bilder und Typen. Vieles und Viele erscheinen, als seien sie gerade aus einem Fellini Film heraus getreten oder entnommen. Schräg, skurril, aberwitzig, schön und gemein und doch zumeist wie seelenlose Avatare oder einfach nur Fleisch, wie es sich Letitia Galloni um die Zehen wickelt, ehe sie sich mit provokantem Blick in ihre Spitzenschuhe zwängt, um dann mit schönen Arm- und Körperbewegungen zu Tschaikowsky-Musik ein „paar Runden auf Spitze“ zu drehen.
Ja, auch der Tanz selbst wird in VIKTOR als Leistung reflektiert, wie schon zuvor in NELKEN und wie es auch andere Choreografinnen und Choreografen in diesen Zeiten getan haben.
Exzellent getanzt…
Immer wieder finden sich Andeutungen von Voyeurismus und selbst Prostitution. Ältere Herren tanzen mit jungen Mädchen, Ditta Miranda Jasjfi stülpt ihr blaues Kleid dem auf einem Stuhl sitzenden Franko Schmidt immer wieder über den Kopf und streckt die Zunge heraus, auf der eine silberne Münze liegt. “Shugar Daddies“ über siebzig, die mit jungen Mädchen tanzen, gibt es derer gleich im Dutzend, aber auch ältere Damen kaufen sich gerne einen gut aussehenden Jüngling in diesem Stück.
Getanzt wird eher selten und wenn, dann fast durchweg exzellent in Formationen, meist zu alten italienischen Volksliedern. Choreographierte, streng getrennte, Frauen- und Männerformationen, die Scott Jennings (ebenfalls überzeugend), in der Rolle von Dominique Mercy, als ein von Pein geplagtes, böses, altes Weib, immer wieder auseinander treibt oder zusammenführt, oder ist das VIKTOR der ihn treibt?
Pina Bauschs Repertoire an Einfällen scheint überbordend und doch oder vielleicht deshalb ist das Stück einige Zigarettenlängen zu lang – und geraucht wird in VIKTOR beinahe ohne Unterbrechungen.
Starke Momente… Auch der Einsamkeit
Nicht alles gelingt in dieser Produktion so genial wie etwa die wunderschönen Momente, als Julie-Anne Stanzak Minuten lang das Bühnengeschehen, im rechten Portal fast unbemerkt stehend, allein mit ihrer schönen Stimme und leisem Gesang begleitet oder die gleichzeitig authentisch und skurrile Szene in einer schmuddeligen Trattoria mit Aida Vainieri, Blanca Noguerol Ramirez und Maria Giovanna della Donne, in der Franko Schmidt vergeblich auf sein Essen wartet und vor dessen Tür der mutmaßlichen Köchin Noguerol, zusammen mit Julie-Anne Stanzak, das Wasser im Mund zusammen läuft, wenn sie an die fette, saftige Ratte denken, die hier gestern vorbeigelaufen kam.
Fellini, Bausch und Rom…
Ja, Rom, die mit produzierende Stadt des Stücks, hat wohl doch noch mehr zu bieten, als seine bekannten Sehenswürdigkeiten… auch wenn die assoziativen Bilder, gemessen an Pina Bauschs Ideenflut, eher selten zu finden sind, wie etwa dann, als Ditta Miranda zu einem der zahllosen römischen Brunnen wird, deren Mund das Wasser speit, mit dem sich die Kollegen Hände, Füße und Gesicht waschen.
Am spürbarsten wird die „ewige Stadt“ tatsächlich durch die Nähe zu Fellini, seinen Typen und Charakteren. Und doch grenzt sich Bausch auch gleichzeitig davon ab. Wo bei Fellini grösste Armut neben Schönheit und Eleganz stehen können und doch Beides eine tiefe Liebe zum Leben vermittelt, die anrührt, löst Bausch beispielsweise eine Szene auf, die aus einem Film des italienischen Meisterregisseurs stammen könnte, wenn Scott Jennings und Julie-Anne Stanzak als ein elegantes Paar einander gegenübersitzt und sich Minutenlang anschweigt, indem sie Stanzak das abgewandelte „Sterntaler Märchen“ aus Büchners „WOYZEK“ rezitieren lässt. Nihilistisch und ohne jede Hoffnung.
Der Mond als ein Stück faules Holz, die Sonne eine verwelkte Sonnenblume und die Sterne aufgesteckte goldene Käfer. „… und als das Kind zur Erde zurückkam, war diese ein umgestürzter Hafen und es hat sich hingesetzt und geweint, sitzt da, immer noch und weint und ist ganz allein…“
Soziologen haben jüngst die Einsamkeit als eines der grössten Probleme unserer Jetztzeit benannt. Insofern ist Pina Bauschs VIKTOR hochaktuell, denn hier gibt es nur Einsame, auch wenn mal zwei nackt in einem gemeinsamen schwarzen Rock tanzen. (Eine der Szenen in VIKTOR, die verzichtbar erscheinen)
Das Bild von sich selbst, das Selfie, das die Anderen nurmehr als Dekoration und Bühnenbild benötigt um die eigenen Status-Symbole zu bestätigen oder zu erzeugen, mag mit ursächlich hierfür sein. Sind pathologische Erscheinungsbilder, wie übertriebener Narzissmus, deshalb normal geworden, weil sie eine Mehrheit darstellen in den (kapitalistisch geprägten) Gesellschaften?
Besessene
Besessene gibt es auch in VIKTOR zuhauf und wenn das Chaos dann auch mal wirklich ausbricht, beinahe als Traumsequenz inszeniert, dann toben sie alle durcheinander, auch die Herren, jetzt in weissen Ärztekitteln. Aus diesem Chaos entsteht beinahe unvermittelt erstmals Harmonie. Tänzerinnen schmieren Butterbrötchen und dazu etwas Marmelade, um sie dann ans Publikum zu verteilen, wo es zu Beginn des Abends noch zwei Pflastersteine waren. Zwei Paar Turnringe werden vom Schnürboden herabgelassen, mit denen sich wunderbar schaukeln lässt… Doch dann beginnt alles wieder von Vorn: Die armlose Frau im roten Kleid, das tote Brautpaar, das „Sterntalermärchen“ und die beinlose Frau mit den langen roten Haaren, hinter der sich nun alle Tänzerinnen und Tänzer mit gesenkten Köpfen beinlos einreihen und sich langsam wippend Richtung Publikum bewegen, während das Licht über dieser Gesellschaft langsam erlischt.
Pina Bauschs VIKTOR ist ein starkes Stück, trotz seiner unübersehbaren Längen. Viele seiner Bilder und vor allem die Tanzformationen und deren Musik werden in Erinnerung bleiben. Ebenso, dass bei der Wiederaufnahme in 2024 ein überzeugend tanzendes, authentisch agierendes Ensemble auf der Wuppertaler Opernbühne zu sehen war.