Gisèle Viennes Uraufführung:

Lieber außerirdisch sein als benutzt

„Extra Life“ im Rahmen der Ruhrtriennale 2023

Nachtkritik von Melanie Suchy

Mitten im Stück fragt man sich mal, ob es in der Corona-Zeit konzipiert und geprobt wurde. Ob Lockdown- und Abstandszustände dazu führten, nur drei Personen auf einer riesigen Bühne agieren zu lassen. Wobei das Wort Agieren in diesem Fall auch noch wahnsinnig wenig Aktion meint, und das zwei Stunden lang. Extra-lang. „Extra Life“ soll, ahnt man irgendwann, eine Art Tiefenbohrung nach verschütteten Erinnerungen darstellen, als Dialog-, Gedanken-, Körper- und Gefühlsarbeit. Als Spiel. Die Regisseurin wagt viel, der Gewinn ist schwer zu haben.

Extra large ist das Ganze im Salzlager der Kokerei auf Zeche Zollverein aufgesetzt. Von der eingebauten Tribüne aus sieht man in einen scheinbar unbegrenzten tiefdunklen Raum mit einem rauen Boden hinein. Das passt zur Industriehalle, ist aber fingiert mit Steinbröckchen auf Gummibelag. Ein einziges bleiches Licht bescheint den unwirtlichen Platz wie ein Mond oder eine Straßenlaterne. Da steht ein Auto. Autos haben wohl gerade wieder Bühnenkonjunktur als Wracks, als Endzeitzeichen. Dieses hier sieht auch tot und alt aus, bis es wie ein Tier die Augen öffnet. Die Scheinwerfer füllen allmählich ihr Licht auf, bis es gelb-warm ist und ebensolche parallele Linien in den sich vernebelnden Platz zieht.

Dieses Verschränken von Lebewesen oder Lebendigkeit mit Maschine oder Kontrollmechanismus  grundiert „Extra Life“. In Gisèle Viennes Gesamtkonzeption und Ausstattung stellt es Magie her in den besten Momenten wie diesen. Dazu trägt das tolle Lichtdesign bei, die Soundkomposition von Caterina Barbieri und Adrien Michel, und später das Gehen und Tanzen der menschlichen Protagonisten. Das Unheimliche dieses Zaubers macht Vienne auf der Bühne begreiflich, das Schreckliche auch. Und da ist das Lächerliche nicht weit und die Erkenntnis darüber, was halt Show ist, Spiel mit den Sinnen: Lustig, wie schwarzer Rauch oben aus dem Auto quillt, als grolle es. Drinnen, jetzt hinter der Windschutzscheibe sanft beleuchtet, sitzen zwei Leute, einer raucht, die andere knuspert Chips aus einer Tüte. Gewollt überwältigend zieht später eine Lichtshow aus einem quadratischen Rahmen heraus Linien und Wände in den dunstigen Raum bis ins Publikum hinein, fächert auf, quetscht ein, tunnelt. Erst gemessen langsam, dann ruckend, als bocke ein Wesen und wolle schnappen. Alles Einbildung.

EXTRA-LIFE_Gisele-Vienne©Estelle-Hanania

EXTRA-LIFE_Gisele-Vienne©Estelle-Hanania

Absprechen

Tatsächlich spielt die Inszenierung auf Spiele an, Computerspiele oder Filmszenennachsprechen, und verwirrt gekonnt und sehr zeitgemäß, doch sie überstrapaziert das Hirn auch: Was ist „real“, was gespielt? Die zwei Autoinsassen, Adèle Haenel und Theo Livesey, plaudern übernächtigt, nach einer Party oder als Zweierparty. Als Geschwister oder enge Freunde. Sie reden – die Texte sind von Vienne, Haenel, Lievesey – von „my character“, Spielfigur. Verstellen mitunter ihre Stimmen, oder das Sounddesign spendiert Hall und Echo. Er sagt: „Hör auf mit den Stimmen!“. Er sucht aber auch in einem altmodischen Radio nach einem Sender zwischen Rauschen. In der Sendung tönen amerikanische Stimmen, eine Frau und ein Mann, die sich über Entführungen durch Außerirdische, Aliens unterhalten. 23 Mal sei ihm das geschehen. Wenn die zwei Partymacher nun aus dem Auto steigen, werden sie selber zu Aliens. Oder zu Menschen im Weltall.

Dieser outer space verlangsamt ihre Bewegungen. Er macht sie scheinbar schweben. Besonders ihn, der erst den funkenden Astronauten spielt, „kch, kch, das ist hier wie Wüste, aber ich war noch nie in einer“, den Terminator zitiert, „I’ll be back“, dann abhebt in einen selig selbstvergessenen Tanz. Der Körper als sanft wellende Nebelschwade.

Auch die Chips-mümmelnde Begleiterin steckt er damit später mal an, sogar die seltsame dritte Figur, die erst im Schatten herumstreunt, in Slow-Motion, Katja Petrowick, sich nähert, verschwindet und sich irgendwann materialisiert, Jacke aus, als Frau mit silberglänzendem Top und Sporthose, als Magierin des Lichts und der großen Pose mit langen Armen, als Avatar, der geht, anhält, Wege wiederholt und die Autoinsassin zunehmend kopiert, verdoppelt. Sie alle heben die Hände und Gesichter wie im Klangbad eines Clubs.

EXTRA-LIFE_Gisele-Vienne©Estelle-Hanania

EXTRA-LIFE_Gisele-Vienne©Estelle-Hanania

Versprechen

Kein Wunder, denn die studierte Philosophin und Figurentheaterspielerin Giselle Vienne hatte 2017 genau das choreographiert: „Crowd“ war ganz große Klasse. Mit einer Menge Menschen, zu Techno, alles in Langsam, ohne Worte, doch nicht still, sondern voller Geschichten, Wünsche, Begegnungen. Hierzulande hatte es 2019 im Tanzhaus NRW in Düsseldorf gastiert.

„Extra Life“ ist wie ein Zoom in eins oder zwei der damaligen Crowd-Teilchen hinein. Von was sucht jemand Erlösung in den Beats, im großen Vibrieren und Driften? Die Geschichte, die sich hinter den Gesprächen von Clara und Félix – so nennen sie einander – als Erinnerung verbirgt, um deren Verbergen und Auspacken sie ringen mit knuspernder Sprache und mit den Spielen, beim Hocken im engen Auto, beim verzögerten Schreiten übern Platz, bei Versuchen von Berührung, Zurückzucken, beim Umarmen, beim Kichern, beim Weinen, ist die eines wiederholten Missbrauchs an Kindern oder einem Kind. An ihm, Félix, oder beiden.

Die roten Fäden, die seine Fantasie im Zimmer spannten, als er sich total gelähmt fühlte, wie er erzählt, durchspannen gegen Ende einmal die ganze Bühne. Alle Linien, die das Licht durch die Nebelwölkchen wirft oder auswirft als rote, dann wachsende weiße Striche, werden durchkreuzt von anderen. Als seien sie nicht allein. Das hat etwas Tröstendes. Die Autoscheinwerfer aber leuchten stur Parallelen. Die sich erst im Unendlichen treffen. Genau dazwischen krümmen sich die Unglücklichen.

Trägt die Geschichte diese ins Riesenhafte ausgreifende Inszenierung? Hat man als Zuschauerin den Faden erhascht, dass es um das unermessliche Leid von Kindern geht, aus denen Erwachsene wurden, die in der Nacht stranden, nicht vor, nicht zurück können, dann ja. Aber er hängt manchmal durch, und das Sprachgewirr aus Französisch und Englisch, sekundiert durch Übertitel auf Englisch und Deutsch, macht nervös, dazu die Länge, es zieht sich. Die ausgefeilte Synthesizer-Musik hilft natürlich, sie bläst spacig, faucht, rauscht, zwitschert, sie orgelt, wiederholt minimalistisch Phrasen aus hohen Tönen, aufwärts, aufwärts, läuft wie automatisiert oder lässt Rhythmus rein, mal hallt sie extrem tief, mal trommeln Herzschläge, bubumm, bubumm. Schrecklich weit und laut, dieser inner space.

Extra-Life22-in-der-Regie-von-Gisele-Vienne-bei-der-Ruhrtriennale-©-Katrin-Ribbe

Extra-Life22-in-der-Regie-von-Gisele-Vienne-bei-der-Ruhrtriennale-©-Katrin-Ribbe

WEITERE TERMINE: EXTRA LIFE

16 & 17 & 18 & 20 August 2023 Ruhrtriennale Festival der Künste 2023, Essen WORLD PREMIERE

23 & 24 & 25 & 26 August 2023 Internationales Sommerfestival Kampnagel, Hamburg

05 & 06 October 2023: NTGent: Stadstheater Gent (BE)

09 & 10 November 2023: La Filature, Scène nationale, Mulhouse (FR) as part of Scènes d’Automne en Alsace

15 & 16 & 17 & 18 November 2023: Théâtre National de Bretagne, Renes (FR)

28 & 29 & 30 November + 01 December 2023: Maillon – Scène européenne, Strasbourg (FR)

06 & 07 & 08 & 09 & 10 & 13 & 14 & 15 & 16 & 17 December 2023: MC93, Bobigny (FR) as part of the Festival d’Automne à Paris & Chaillot — théâtre national de la danse

18 & 19 January 2024: TANDEM scène nationale, Douai (FR)

31 January + 01 February 2024: MC2: Grenoble, Grenoble (FR)

21 & 22 & 23 & 24 February 2024. Comédie de Genève, Genève (CH) as part of festival Antigel – Genève

27 & 28 March 2024. Le Volcan, Scène nationale du Havre, Le Havre (FR) as part of Festival Déviations