Schrittmacher Festival just dance in Heerlen:

„Sadeh21“

von Ohad Naharin und Batsheva Dance Company – The Young Ensemble

Nachtkritik von Nicole Strecker

„…18 mal „wow“. Die jungen „Batshevas“ sind großartig (das soll „Nachwuchs“ sein – wirklich?), Naharins Choreografie ist großartig…“

Das Licht im Publikumssaal ist noch nicht verloschen, die Zuschauer sind noch ganz mit sich selbst beschäftigt, da attackiert sie schon der erste laute Knall wie ein Schuss aus den bombastischen Lautsprechern und lässt die Körper zucken. Vereint im Schrecken, willkommen bei Ohad Naharin. Starchoreograf und langjähriger Chef der Batsheva Dance Company aus Tel Aviv. Erfinder des israelischen zeitgenössischen Tanzes sowie einer Technik, die derzeit – trotz ihres (nach „verrückt“ klingenden) Namens „Gaga“ – die Massen euphorisiert. Und wohl auch das: provokanter Nonkonformist. Jedes seiner Stücke hinterlässt den Eindruck, hier setzt sich einer mit einer gewaltbereiten, militarisierten Gesellschaft auseinander. Aber wehe man möchte Naharin darauf festlegen – er darf sich der Verachtung des Meisters sicher sein. Oder er behauptete das Gegenteil! Als die hierzulande wegen ihrer aggressiv-spaltenden Aktionen gefürchtete, israel-feindliche BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) Ohad Naharin angriff, und der BDS-Anhänger Brian Eno es Naharin untersagte, seine Musik als Soundtrack zu verwenden, da betonte Naharin als Gegenargument seine kritische Haltung zu Israels Besatzungspolitik. Erzählt nun also sein 2011 entstandenes Stück „Sadeh21“ von seiner Heimat? Von Ohad Naharin selbst, seiner Selbstfindung als eigensinniger Choreograf? Von Kollektiv und Individuum? Ist es rebellisch? Versöhnlich? Man weiß es nicht. Batsheva Dance ist eine Champion-Kompanie, wenn es darum geht, irgendwie zornig, politisch, zeitgeistig auszusehen, jede Tanzsequenz wie eine dringliche Metapher wirken zu lassen, ohne die Schlüssel dafür rauszurücken. Ganz besonders mysteriös: „Sadeh21“.

Batsheva_SADEH21_©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Batsheva_SADEH21_©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Es beginnt mit „Sadeh1“: Vorstellungsrunde. Nacheinander zeigt jeder der 18 Tänzer ein Solo als wäre es seine ganz persönliche Bewegungs-Visitenkarte. 18 mal „wow“. Die jungen „Batshevas“ sind großartig (das soll „Nachwuchs“ sein – wirklich?), Naharins Choreografie ist großartig. Er lässt sie sexy schlängeln, verrückt springen, gummigelenkig meditieren und selbst als Versehrte sind sie Virtuosen. Simple Bewegungen werden ins Bizarre übertrieben. In Kraftposen wird verweilt als wüsste der „Held“ von hier aus nicht weiter, und eine chaotische Sequenz sortiert sich plötzlich in ballettschöner Eleganz – betörend. Auf die Bühnenrückseite wird das Wort „Sadeh“, also deutsch „Feld, Gebiet“ mit aufwärts zählender Numerierung projiziert, aber die vermeintlichen „Abschnitte“ sind wohl nicht mehr als ein Gag. Überhaupt ist es besser, jeden Interpretationsversuch dieses Stücks rasch aufzugeben und sich einfach dem immerzu verblüffenden Tanz zu überlassen, der aus Banalem Brutales macht und aus technischer Brillanz eine Beiläufigkeit. Eine Tänzerin legt sich auf den Boden und lockert die Beine, so dass mit ihren Schenkelrückseiten ein klatschendes Geräusch auf dem Boden entsteht. Eine einfache Aufwärmbewegung wie aus dem Tanzsaal – oder?

Batsheva_SADEH21_©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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In dieser Dauer und mit einer Gruppe stampfender Männer in ihrer Nähe liegt hinter Harmlosigkeit doch seltsame Gewalt. Drei „Grazien“ weisen mit den Zeigefingern ins Publikum, sie beginnen, die Finger zu kreisen, immer größer wird die Bewegung bis der ganze Körper haltlos schleudert – als ginge es darum zu zeigen, wie sehr eine aggressive Geste die Ausführenden selbst angreift. Am Ende klettern alle Tänzer auf die Bühnenrückseite als wäre es eine Mauer, die es zu überwinden gilt – und die Gedanken schweifen eben doch mal wieder nach Israel. Für einen Augenblick stehen die Tänzer still oben in erhabener Freiheit. Dann fallen sie ins Schwarze hinter ihnen. Nein, falsch, sie fallen nicht einfach. Sie sinken mit schlaffen Gliedern wie Selbstmörder. Sie stürzen mit zuckendem Körper wie Abgeschossene, hüpfen wie im Schwimmbad, springen mit Salto wie Zirkusartisten, machen einfach nur einen Schritt zu viel Richtung Abgrund. Ein Grauen? Eine Lust? In jedem Fall: ein unfassbarer Widerspruch.

Batsheva_SADEH21_©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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