Schrittmacher Festival: 

Sexy Stress-Tanz

„Asylum“ von der Kibbutz Contemporary Dance Company in Aachen, Fabrik Stahlbau Strang

Von Nicole Strecker

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Ein Stück aus Israel macht sich immer gut im Festivalprogramm, ein Garant für hitzigen, sinnlichen Tanz, in dem spürbar der Zeitgeist pulst. Bei Schrittmacher ist es die Kibbutz Contemporary Dance Company, kurz KCDC, unter der künstlerischen Leitung von Rami Be’er, die regelmäßig gastiert. Diesmal mit einer Produktion, die „Asylum“ heißt. Das kann doch nur das Stück der Stunde sein. Oder?

Ein Schutzraum, den es zu verteidigen gilt

Nicht ganz. Denn KCDC hat nun mal überwiegend ein Thema: KCDC. Was ganz okay ist, denn die Gründungsgeschichte und Form der Kompanie sind speziell genug für ein ganzes Oeuvre. Das „Kibbutz“ im Namen ist schließlich nicht einfach nur ein Label, sondern ganz wörtlich zu verstehen: Die 1973 von der Auschwitz-Überlebenden Yehudit Arnon gegründete Kompanie lebt in einem Kibbutz im Norden Israels, in Ga’aton nahe der libanesischen Grenze. Ein ganzes Dorf also, das sich dem Tanz verschrieben hat. Und dem gemeinschaftlichen Zusammenleben. Wer hier über das Konzept des Asyls nachdenkt, kommt vermutlich auf andere Ideen als ein Deutscher, der es gerade mit mehr als 270.000 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine (Stand 2.4.2022) zu tun hat. „Asylum“ – das ist der Kibbutz. Das ist Israel. Ein Schutzraum, den es zu verteidigen gilt.

ASYLUM-Kibbutz©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Wohin mit dem Herzen?

Die Zerrissenheit der Generation Rami Be’ers zwischen der Loyalität zur Ersten Generation Israels, den Opfern des Holocaust, und dem Leiden daran, selbst eine Kriegsnation zu sein – sie zeigt sich vielleicht an der Distanz, die Rami Be’er immer zu den von ihm porträtierten Kollektiven hält. Keine Idyllen, keine süßlichen Harmonien. Sondern rasend verzweifelte, wütend um sich schlagende, grotesk grimassierende Gruppenaufmärsche. Das Gute, das Böse – die Grenzen sind fließend, in jedem von uns.

In seiner 2018 entstandenen Produktion „Asylum“ rutscht sein Ensemble auf Socken rückwärts in Minischritten herein. Die Musik bumpert im Herzrhythmus und auch die Tänzer halten die Finger zu einem zuckenden Herz gebogen, allerdings vor die Hüften. Dann wandern die Hände nach oben, auf dem Körper herum – wohin bloß mit diesem ostentativen Herzen? Wo schlägt es, für wen schlägt es, wem gehört es?

ASYLUM-Kibbutz©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Kein Ort, nirgends

Ein starkes Bild, das gleich zu Beginn klar macht: Kaum einer hat hier sein „Asylum“ schon gefunden. Nicht in der Liebe, die sich in wunderbar vertrackten, ruppigen Duos spiegelt, in denen Mann und Frau niemals synchron in die gleiche Richtung streben. In denen permanent einander widersprechende Gefühle an den Körpern zerren: Sehnsucht nach Nähe und Flucht. Helfenwollen und Übergriff. Gewalt und Zärtlichkeit. Aber auch nicht in diesem Kollektiv, das aus Folklore- und Standardtanz immer wieder ins Martialische driftet und die Arme wie Gewehre hochhält. Wer hier dazu gehört, ist auch ein Kämpfer. Keine Geborgenheit, kein Frieden möglich. 

ASYLUM-Kibbutz©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Der Tanz als Zuflucht?

Oder doch! Einen Ort der Gelassenheit und Stärke könnte es geben: Der tanzende Körper, der seinen Fokus, seine Balance auch dann nicht verliert, wenn ihm mit einem Megaphon direkt ins Ohr gebrüllt wird: „712213“ – was mag diese Nummer bedeuten? Die Auschwitz-Kennzeichnung der Kompaniegründerin Yehudit Arnon? Weil es die Pflicht der Nachfahren ist, niemals zu vergessen? So denkt man als Deutsche:r – und könnte natürlich völlig daneben liegen mit dieser von Schuldgefühlen belasteten Interpretation. Überhaupt darf man sich sicher sein: Ein jüdischer und ein deutscher Zuschauer werden an diesem Abend zwei sehr unterschiedliche Stücke sehen. Die aber doch eines eint: Das Vergnügen an einem verdammt gut tanzenden, verdammt sexy aussehenden Ensemble, das offenbar gar nicht anders kann, als den Stress aus den Leibern zu schleudern. Immer auf der Flucht. Kein „Asylum“, nirgends.

ASYLUM-Kibbutz©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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