schrit_tmacher Festival 2024 in Aachen

VIDEO-IMPRESSIONEN

Ferne, nahe Welt 

Die New Zealand Dance Company konfrontiert uns in „Whenua“ mit einer Hoffnung: Dass wir alle, so verschieden wir sind, uns im Kern nicht unterscheiden. 

Von: Harff-Peter Schönherr 

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Es gibt Orte, die haben zwei Leben. Die Fabrikhalle von Stahlbau Strang in Aachen ist ein solcher Ort. Ihr erstes Leben hat sie 1890 begonnen, als Industriestandort. Ein riesiger Kranhaken zeugt davon, hoch über uns. Stürzte er zu Boden, ein mittleres Erdbeben wäre die Folge. Überall Rohrleitungen und Schutzgitter, Beton und metallene Türen, die so wehrhaft aussehen als befände sich hinter ihnen ein Gefängnisflur oder eine Kammer voller Schätze. Das zweites Leben der hohen,  langen, schmalen Halle, das als Eventlocation, gewinnt immer dann besondere Strahlkraft, wenn das „schrit_tmacher“-Festival ansteht. 

Gerade ist wieder Strahlkraft-Zeit. Und das beginnt schon im Foyer, durch Joost Meyers verstörende „Lichtwesen“, die unter dem rückgrathaften Oberlichtband der rot illuminierten Werkstattwelt schweben als befänden wir uns tief unter Wasser. Untote Haie ziehen über uns hinweg, zombiehaft zerfleischt und zersetzt, und auch der Mondfisch, der als erster zermalmt würde, ließen die Stahlseile den damokleshaften Haken los, wirkt, als sei er durch ein Säurebad geschwommen. Die Natur leidet, signalisiert uns das, und die Ursache ist der Mensch. 

Um die Natur geht es auch bei der New Zealand Dance Company, deren zweiteiliges Programm „Whenua“ uns mit Malia Johnstones und Rodney Bells „Imprint“ und Eddie Elliotts „Uku – Behind the Canvas“ in eine Welt katapultiert, die oft nicht weniger schockhaft ist als Meyers Geister. Es geht um den Wert allen Lebens und um den Raubbau, den wir an ihm treiben. Es geht um die Nähe zur Natur, die so vielen von uns fehlt. 

WHENUA_NEW-ZEALAND-DANCE-COMPANY©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

WHENUA_NEW-ZEALAND-DANCE-COMPANY©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

„Whenua“ bedeutet auf Maorisch „Land“, und das Land, in das die beiden 40-Minüter uns reisen lassen, ist nicht nur Aotearoa, Neuseeland. Am Ende tauchen wir dabei tief in die Welt der indigenen Bevölkerung ein, auch in seelische Landschaften,  spirituelle. Die zentrale Botschaft: Unser Inneres verkümmert, wenn ihm keine Mitmenschlichkeit innewohnt, keine gegenseitige Toleranz, kein gegenseitiger Respekt. 

So beginnt der Abend denn auch mit einer hochemotionalen Aufforderung zur Nähe mit dem Gegenüber, mit einer Umarmung aller durch alle, zu schlichtem Klavier und melodischen Streichern. Und so sehnsüchtig er beginnt, so sehnsüchtig endet er auch: In der überindividuellen, überzeitlichen Hoffnung, eins zu sein mit allem, auch mit  seinem Land und seinen Vorfahren, ohne Bedrohung zu leben, in Frieden. 

Es ist ein Abend unbändiger Energie, ungeheurer Kraft, und dass beide Choreografien, bei allem eigenen Profil, starke Parallelen aufweisen, von der Bewegungssprache bis zur Musik, von der Thematik bis zur Lichtregie, tut ihm gut. „Imprint“ und „Uku – Behind the Canvas“ vertiefen sich gegenseitig. 

Körper gleiten, taumeln und fallen, bäumen sich auf und sinken in sich zusammen, liegen wie tot,  türmen sich aufeinander. Körper wirbeln und zucken, kriechen und stürzen, verharren und erstarren. Körper winden sich umeinander, zerren aneinander. Liebe wird zum Kampf, Kampf zur Liebe. 

WHENUA_NEW-ZEALAND-DANCE-COMPANY©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

WHENUA_NEW-ZEALAND-DANCE-COMPANY©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

Athletisch ist das, akrobatisch, hochpräzise. Jähe Wildheit steht dabei neben zarter Elegie, Freude neben Qual. Archaik teilt sich mit, Atavismus. Sensitivität teilt sich mit, Sublimierung. Menschwerdungen wohnen wir bei, Entmenschlichungen. Oft stehen DarstellerInnen wie Statuen, und hätte Michelangelo sie erschaffen, es würde nicht verwundern. 

Eine Parallele zwischen „Imprint“ und „Uku – Behind the Canvas“ ist das Weiß. Scheinwerfer  bohren es wie Lanzen durch die Schwärze, gleißend grell. Eine helle Wand, zugleich Projektions-, Schattenwurf- und Hinterleuchtungsfläche, hebt und senkt sich wie in unmerklichen  Atemzügen, dreht sich, stürzt jäh in die Diagonale. Ein weißes Bodentuch wird zur Landschaft reliefiert, zur inneren Wunde. Gestalten nähern sich Lichtkreisen wie abgrundtiefen Schächten. Aus einer Schale bestreichen sich Ekstatische mit weißer Farbe, ihre Körper bestreichen damit den Boden. Stark ist das. 

Eine Parallele zwischen „Imprint“ und „Uku – Behind the Canvas“ ist auch der stark rhythmisierte, oft perkussive Sound. Berstende Schläge lassen den Boden beben, tiefes Dröhnen durchfährt den Magen. Technoides Flirren, splitterndes Krachen, fette Beats, dazu chorhafte, orchestrale Wucht.  Stark ist das. 

„Whenua“ fordert uns heraus. Durch kryptische Symbolismen. Durch extreme Abstraktion. Durch erratische Emotionen. Durch absurde Komödiantik, die jäh den tiefsten Ernst durchfräst. Durch Auftritte, die nur Sekunden kurz sind. Durch Stroboskop-Blitze, die jede Bewegung zu rasender Geschwindigkeit zerhacken. 

Aber diese Herausforderung führt nicht zur Irritation. Der Abend zeigt ein Ensemble, das großartig als Kollektiv funktioniert. Raumgefühl und Timing sind exzellent; das schauspielerische Potenzial ist eindrucksvoll. 

Allerdings: Es gibt Schwächen, inszenatorische wie technische. 

Rätselhaft, warum die maorische Sprache keine Übersetzung erfährt. Rätselhaft, warum plötzlich ein Scheinwerfer so massiv in die Sitzreihen blendet, dass es im Publikum heller ist als auf der Bühne. Rätselhaft auch die Rolle des Rollstuhlfahrers, der zu Beginn per Video eingeblendet wird. Wer ist er? Warum tritt er auf? Warum spielt er danach keine Rolle mehr? Man weiß es nicht. 

Hinzu kommt: Die Bühne, nur knapp 12 Schritte breit, ist klein. Längere,  szenenvorbereitende Wege lassen sich auf ihr nicht realisieren; jedes Geschehen findet gezwungenermaßen in großer Unmittelbarkeit statt. Hinzu kommt: Die vorderen Zuschauerreihen können bis tief in die Kulissen hineinsehen. Die TänzerInnen müssen also noch  in ihrer Rolle bleiben, obwohl sie die Bühne eigentlich schon längst verlassen haben. Hinzu kommt: Die Seitenfenster der Fabrik sind nicht abgedunkelt. Gerade bei stillen, eher dunklen Szenen stören die Scheinwerfer der vorüberfahrenden Autos erheblich. 

Im Übrigen: Wer bei „Uku – Behind the Canvas“ kurz an Francis Ford Coppolas „Apokalypse Now“ denkt, das düstere Herz der Finsternis, das unzugängliche Reich des Colonel Kurtz, der Optik wegen, geht nicht ganz fehl, trotz des Haka, des rituellen Tanzes der Māori, dem Elliott hier viel Raum gibt. Aber dann kommen ein paar Frauen herein. Und fangen an zu lästern, warum auch immer. Und zerstören die Düsternis. Schade. 

Der Rückweg aus der Fremde, die nun gar nicht mehr so fremd ist, führt wieder an den Lichtwesen vorbei. Sie schwimmen noch. Auch der Haken hängt an seinem Platz, und er sieht so aus, als würde er das noch lange tun. Vielleicht ist ja wirklich noch Hoffnung für uns.

WHENUA_NEW-ZEALAND-DANCE-COMPANY©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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