MOVE! Festival in Krefeld

Opfer und Ungeheuer zugleich

Emanuele Soavi incompany gastiert mit den zweiteiligen „Stormsongs“ bei move!

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Von Bettina Trouwborst

Emanuele Soavis Tanz erschließt sich gewöhnlich über Figuren der griechischen Mythologie, der biblischen Geschichte oder Werke der großen Meister der Kunsthistorie. Schließlich absolvierte der Italiener parallel zu seiner Tanzausbildung ein Studium der Literatur und Philosophie an der Universität von Ferrara. Sein Schwerpunkt: Kunstgeschichte samt Ikonographie und Ikonologie. Der neue Abend, überschrieben „Stormsongs“, ist indes – mit einer schillernden Ausnahme – nicht bevölkert von fantasievollen Kreaturen zwischen Tier, Gott und Homo sapiens. Der Maestro Art bezieht sich vielmehr auf den Barock und setzt ihn in Bezug zur Gegenwart und den zeitgenössischen Formen.

Der zweiteilige Tanzabend verbindet das künstlerische Material von Soavis letzten beiden groß angelegten Koproduktionen: „Façades“ ist Konzentrat und Weiterentwicklung des gleichnamigen choreografischen Konzerts mit der Koloratursopranistin Anna Prohaska zu Vokalmusik des Frühbarock. Es entstand für die Kölner Philharmonie im Frühjahr 2024 und handelt von den Gefühlsstürmen einer Liebenden. „Terpsichore“, uraufgeführt bei den Händel-Festspielen in Halle 2024, fließt in den zweiten Teil des Abends ein. Da beide Produktionen nach der Premiere nicht mehr gezeigt wurden, ist diese Art von choreografischem „Recycling“ nicht nur nachhaltig, sondern auch künstlerisch klug – allerdings erst auf den zweiten Blick. Denn „Terpsichore“ vermag nicht recht zu überzeugen.

STORMSONGS_EMANUELE-SOAVIincompany©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Im Zentrum des ersten Teils: eine quadratische Matratze auf einem Metallgestell. Zu Beginn liegt hier eine Frau, die sich nach allen Regeln der lasziven Kunst in Pose legt, setzt, räkelt. Im Halbdunkel schleichen sich drei Personen mit Handys, Taschenlampenfunktion eingeschaltet, heran und halten drauf. War das szenisch vielleicht noch barock gedacht, so weist die „Reproduktionstechnik“ doch zu Etta Jones’ „Stormy Weather“ in die Gegenwart.

Was folgt, sind Tänze eines stilvoll kostümierten Quartetts in glänzenden, kupferfarbenen Hemden und grauen Hosen. Die Akteur*innen bewegen sich in vielfältigen Konstellationen im typischen Soavi-Stil, der Forsythe unübersehbar integriert und weiterentwickelt hat. Die Gelenke sind in ihrem Spielraum ausgereizt, die Moves geschmeidig fließend. Die Körper verdrehen und verschlingen sich noch ziselierter als sonst, verharren in kurzen skulpturalen, asymmetrischen Formen. Vieles wiederholt sich, diese Sequenzen zu nerviger elektronischer Musik sind überreizt.

Die Matratze wird als Spielwiese zur Kuschelzone, Rutsche, Sprungbrett, Tanzfläche, Pool und – hochkant – zum Vorhang. Und schließlich sogar zur Pforte in die Unterwelt: Eine kleine Gruppe lässt die Matratze auf einen Tänzer kippen, die ihn unter sich begräbt. Ein spitzbübischer Übergang, spielt der zweite Teil doch in der Unterwelt. Ein Einfall, auf den man von selbst – wie auf vieles an diesem Doppelabend – nicht käme. Soavi verriet ihn der Autorin dieser Zeilen nach der Vorstellung.

STORMSONGS_EMANUELE-SOAVIincompany©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Eine obskure Welt offenbart sich nach einer Pause. Leise, sehnsuchtsvolle Musik erfüllt die dunkle Bühne. Ins Auge fällt eine mysteriöse, dunkle Gestalt auf einem Hocker, links vorne, den Rücken zum Publikum. Sie trägt einen extravaganten Kopfputz aus metallischen Bögen und schwarzen Perlen. Auf einem terracottafarbenen, spiegelnden Tanz-Quadrat liegt ein Tänzer. Ein Trio in satinartigen Oberteilen in Taubenblau spielt, wie im ersten Teil, Begegnungen und emotionale Zustände durch, choreografisch federleicht.

Spannung entsteht blitzartig, als die Gestalt sich regt. Sie zeigt das stark geschminkte Gesicht einer bösen Stiefmutter aus dem Märchen oder einer Drag-Queen, umrahmt von langen schwarzen Haaren. Das Kleid lässt durch eine Aussparung eine blanke Männerbrust erkennen. Unheimlich wirkt es, wenn die Figur ihre knallroten Lippen stumm bewegt, die Zunge deutlich sichtbar, wie zu einem Hilferuf.

STORMSONGS_EMANUELE-SOAVIincompany©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Das Gender-Zeitalter bricht an, das Trio streift die blauen Shirts ab – darunter tragen alle einheitliches Schwarz. Wenn die Arie „Credete al mio dolor“ aus der Gluck-Oper „Alceste“ erklingt, interpretiert die diverse Diva sie tanzend und stumm singend. Ergreifend, wie Joel Small diese Rolle gestaltet, Opfer und Ungeheuer zugleich. Sein typisch barockes Lamento, übertragen ins Heute, geht nahe. Eine Hommage auch an die Ikonen des Barock. Es ist vor allem der Verdienst dieser großartigen Figuren-Kreation, dass dieser Abend in Erinnerung bleibt.

STORMSONGS_EMANUELE-SOAVIincompany©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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