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Hoffnung? Keine!

Tanz auf dem Vulkan: Alice Ripolls Choreografie „Zona Franca“ konfrontiert uns mit dem Lebensgefühl der Favelas Brasiliens. Auf den ersten Blick ist das irritierend farbenfroh, auf den zweiten abgrundtief schwarz. Doppelbödigkeit, die Augen öffnet.

Von: Harff-Peter Schönherr

Schön ist es hier, auf den ersten Blick. Es wird getrommelt, es wird getanzt, es wird gesungen. Sonnenwarmes Licht umschmeichelt junge, lachende Menschen. Silbrige Luftballons schweben über ihnen, verheißungsvollen Welten gleich. Andere, tiefrot, locken wie Früchte des Paradieses. Man trägt Afro, man trägt Dreads, man trägt viel Haut, man trägt sinnliche Kleidung. Ein Fest scheint sich anzubahnen – oder fortzusetzen, vielleicht für immer. So sieht Glück aus. Denkt man.

Aber so ist es nicht. Alldas ist nur Fassade, nur die Flucht in eine Scheinwelt, um dem Elend der wirklichen zu entfliehen. Hinter alldem steht die Hoffnungslosigkeit der Favelas, die Armut der informellen, oft improvisierten Stadtviertel der Ausgegrenzten, in die Touristen, die Brasiliens Großstädte erkunden, meist nur einen kurzen Blick werfen, obwohl pittoreskes Elend auf Reisefotos heute so en vogue ist wie selten.

Alice-Ripoll_ZONA-FRANCA©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Dass alles nur Fassade ist, zeigt sich, wenn das Exzessive, das Exaltierte des Scheins plötzlichem Schweigen weicht, wenn der Gesang zur Klage wird. Hart sind diese Brüche. Wir sehen sie wieder und wieder. Und je öfter wir sie sehen, desto schockhafter wird uns klar: Die Figuren, die uns hier gegenübertreten, sind in tiefer Verzweiflung gefangen, in fatalistischem Pessimismus. Sie ändern die Zustände nicht, die sie quälen, sie verdrängen sie nur. Vor allem durch viel leere, künstlich überhitzte Körperlichkeit.

Die Menschen, die uns in Alice Ripolls Choreografie „Zona Franca“ als DarstellerInnen gegenübertreten, wissen, wie sich das Leben in den Favelas anfühlt. Sie haben es erlebt. In Rio de Janeiro. An der eigenen Seele, am eigenen Leib. Dass Ripoll sie kein Bild des Widerstands zeigen lässt, keine Einforderung eines besseren, menschenwürdigeren Lebens, sondern nurmehr Selbstbetäubung, ist beklemmend.

Alice-Ripoll_ZONA-FRANCA©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Wer nicht genau hinsieht, sieht nur Skurrilitäten. Ein Bauch wird vorgebläht und eingezogen. Zauberglitter durchrieselt die Luft. Freak-Akrobatik wird zelebriert, eine Zunge herausgestreckt. Aus der Tasche eines Essensboten kommt eine Schale zum Vorschein, deren Inhalt zu schmecken scheint. Die Reifen und Speichen eines Rades machen Musik. Es wird Fußball und Polonaise gespielt. Man tanzt, was junge, urbane Menschen tanzen, wenn sie unter sich sind, oft zu brachialer Elektronik. Jemand kickt, während Stadion-Elfmeter-Frenetik eingespielt wird, einen roten Ball ins Publikum.

Wer genau hinsieht, spürt die Brüche. Da klingen die BPM der drum machine dann nicht mehr nur wie Musik, sondern wie ein Maschinengewehr. Da ballen sich Menschenknäuel nicht mehr nur in situativer Extase, sondern in Qual, aus fundamentalem Mangel an Nähe. Da werden Kampf- und Schussgesten nicht nur im Spiel angedeutet, sondern Ernst. Da platzen nicht nur Luftballons, um die Bühne mit den schimmernden, farbig leuchtenden Partikeln aus ihrem Inneren zu überziehen, weil sie nachher so attraktiv an schweißnasser Haut kleben, da zerplatzen Träume. Da wird nicht nur aus Übermut gebrüllt und gewinselt, sondern aus Ohnmacht. Da vereinzeln sich Menschen nicht nur, weil es beim Streetdance nun mal um Wettbewerb geht, sondern weil sie unfähig sind, Gemeinschaft zu spüren. Da twerken junge Frauen nicht nur aus Laszivität, wird Fußfetischismus nicht nur aus Neugier ausgelebt, sondern damit man überhaupt noch etwas spürt in dieser kalten Welt.

Alice-Ripoll_ZONA-FRANCA©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Das Publikum lacht zuweilen. Hat es nicht genau hingesehen? Lacht es, weil es am liebsten das Gegenteil täte?

Ripoll geht, zeigt sich hier, ein hohes Risiko ein. Sie will Symbolhandlungen zeigen, viel- und tiefschichtig, und das gelingt ihr auch. Aber ihr überbuntes Feuerwerk des scheinbar Glückhaften lässt die Entschlüsselung zur Herausforderung werden. Und ihre teils absurditätsnahen Requisiten, die Präsenz und Energiegeladenheit ihrer DarstellerInnen, drohen zu überdecken, dass uns hier ein Lebensgefühl entgegentritt, das zwar die Suchbewegung nach neuer Selbstbestimmung kennt, am Ende aber in Selbstaufgabe mündet.

Ripolls Risiko beginnt schon beim Titel: „Zona Franca“. Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch heißt das: Freihandelszone. Was also erwartet uns hier? Getanzter Wirtschaftsliberalismus? Ein Stück, das der rechtsextreme US-Autokrat Trump, verliebt in unsinnige Zölle, gewiss demnächst auf den Index setzt?

Natürlich nicht. Ripolls Tanzstück ist in erster  Linie ein kollektivpsychologischer  Impuls. Er zielt auf die Freiheit der Kunst und des Denkens, auf die persönliche Freiheit, die bürgerliche. Was uns hier entgegentritt, ist, so konkret wie abstrakt, ein Freiraum, ein Möglichkeitsraum, eine Zone freien Handelns. Zumindest potenziell. Ripolls Figuren nutzen sie nicht. Und dadurch zeigen sie uns, was mit uns geschähe, würden wir es ihnen gleichtun: Wir wären Opfer einer Wiederholungsschleife unterhaltend-ablenkender, aber Blindheit erzeugender Nichtigkeiten.

Alice-Ripoll_ZONA-FRANCA©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Die Vielfalt der Figuren von „Zona Franca“, die Vielfalt ihres Tuns und Unterlassens, ist eine Feier der Vielfalt schlechthin: Jedem, der für demagogische Populisten wie Trump empfänglich ist, die uns als Gegenmittel zur Kompliziertheit unserer modernen Welt suggerieren, unser Heil liegen im Uniformen, in einer Rückkehr zur vermeintlichen Einfachkeit vergangener Tage, sei „Zona Franca“ empfohlen. Vielfalt, zeigt sich hier, ist Kraft, trotz allem. Ein Stück, dass den analytischen Blick für Doppelbödigkeiten schult.

Der 75-Minüter erzähle, verspricht der Veranstalter, „von den Hoffnungen einer enterbten Generation“, sei eine „politisch-poetische Erfahrung“, ziele auf einen „Raum, in dem sowohl Darsteller als auch Publikum Freiheit in einer Zeit finden können, in der weltweit dunkle Wolken aufziehen“. Auch das ist ein Wagnis. Denn so fragen wir uns, während Ripolls glückloses Glück auf uns einbrandet, zunehmend frustriert, wann alldas denn nun eingelöst wird.

Es wird nicht eingelöst. Welche Enterbung gemeint ist, und welche Politik, erschließt sich nicht. Erst recht nicht, welche Freiheit uns denn nun hilft, die Dunkelheit zu besiegen. Ripoll selbst hat betont, der Wahlsieg von Luiz Lula da Silva über den rechtsextremen Brasil-Autokraten Jair Bolsonaro in 2022 habe die Arbeit an „Zona Franca“ beinflusst. Wir konstatieren: Direkte Spuren hat dieser Einfluss auf der Bühne nicht hinterlassen.

Was Ripoll uns bietet, ist ein hintergründig schockhafter Tanz auf dem Vulkan. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wäre mehr mehr gewesen? Wir werden es nie erfahren.

Alice-Ripoll_ZONA-FRANCA©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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