Überwältigender Erfolg beim schrit_tmacher Festival 2024 in Heerlen

„The Rite of Spring / common ground[s]“

Nachtkritik von Nathalie Broschat

Zwei auf den ersten Blick voneinander losgelöste Tanzstücke, die zusammen aber ein großes Ganzes ergeben.
Zuerst das ruhige Duett der beiden Tanzgrößen Germaine Acogny und Malou Airaudo, dann die pulsierende Choreografie „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch mit über 30 afrikanischen Tänzer*innen

Wow, was für ein riesiges Projekt! 2019 hat die Pina Bausch Foundation die Einstudierung der Bausch’schen Choreografie „Das Frühlingsopfer“ (engl. „The Rite of Spring“, franz. „Le Sacre du Printemps“) mit afrikanischen Tänzer*innen aus 14 Ländern des Kontinents begonnen. In drei Städten Westafrikas wurde dafür 38 Tänzer*innen gecastet. Weitergegeben wurde die pulsierende Choreografie durch die Körper und das Wissen von Menschen, die diese selbst getanzt haben. Ein umfangreiches und belebendes Projekt, das jedoch kurz vor Fertigstellung durch die Pandemie zum Stillstand kam. Die letzte Probe für „The Rite of Spring“ fand am Strand von Toubab Dialaw in Senegal statt und wurde spontan von Filmemacher Florian Heinzen-Ziob und seinem Team filmisch begleitet. Die Aufzeichnung dieser Probe, Interviews und noch viele weitere Informationen über dieses umfangreiche Projekt sind wunderbar zugänglich auf der Website der Pina Bausch Foundation veröffentlicht. Somit dokumentiert, konserviert und öffnet pinabausch.org die Prozesse der Weitergabe der Choreografien dieser Ausnahmekünstlerin für alle Interessierten.

Die Weltpremiere der Neueinstudierung von „The Rite of Spring“ konnte schließlich am 23. September 2021 im Teatros del Canal in Madrid (Spanien) stattfinden und danach international auf Tour gehen. Ähnlich wie Pina Bauschs Choreografie von „Das Frühlingsopfer“, die im Dezember 1975 in Wuppertal zur Uraufführung kam, ab 1979 um die Welt ging und den internationalen Durchbruch besiegelte. Die Premiere des ursprünglichen Werkes „Le Sacre du Printemps“ mit Musik von Igor Stravinsky und einer Choreografie von Vaslav Nijinsky für Sergej Djagilevs Kompanie Ballets Russes fand 1913 in Paris statt und wühlte das dortige Publikum und das gängige Verständnis von Tanz und Musik kräftig auf und leitete so die Tanzmoderne ein. Das Ballett stellte 1913 ein Ritual im heidnischen Russland dar, in welchem dem Frühlingsgott eine Jungfrau geopfert wurde. Pina Bausch untersuchte 1975 genauer wie sich die Frau, das Opfer, in der Gruppe bewegt und sich schließlich für den Frühling zu Tode tanzt.

TRIPPLE-BILL-TTW_Le-Sacre-Du-Printemps_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Common-Ground©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

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Und jetzt, über 100 Jahre nach der Uraufführung in Paris und fast 50 Jahre nach Bauschs in Wuppertal lebt ihre choreografische Auseinandersetzung zur bombastischen Musik von Stravinsky weiter in den Tänzer*innenkörpern. Das ist kraftvoll, hypnotisch und sanft zugleich. Sanft, da der Gruppenchoreografie „The Rite of Spring“ zur Live-Musik vom Philzuid aus Eindhoven, das fast schon leise Duett „common ground[s]“ von Germaine Acogny und Malou Airaudo vorangestellt ist und tiefe Verbindungen schafft. Malou Airaudo, geboren 1948 in Marseille, dort ausgebildet und in klassischen Kompanien engagiert, lernt in New York nicht nur den Modernen Tanz kennen, sondern auch Pina Bausch. Die holt Malou 1973 nach Wuppertal in die neu gegründete Kompanie. Malou ist Tänzerin der ersten Stunde bei und mit Pina und studiert heute deren Stücke mit vielen Kompanien und Tänzer*innen ein, trägt das choreografische Erbe also weiter. Germaine Acogny wurde 1944 in Benin geboren und gilt als Wegbereiterin des afrikanischen Tanzes. Sie gründete nicht nur die Tanzschule „Mudra Afrique“, sondern auch die „École des Sables“, mit der die Pina Bausch Foundation und Sadler’s Wells für diese Einstudierung zusammenwirkte. Für ihr künstlerisches Schaffen wurde Germaine Acogny mehrfach ausgezeichnet, 2021 mit dem Goldenen Löwen der Tanzbiennale in Venedig für ihr Lebenswerk.

Und genau dieser Dialog der tänzerischen Lebenswerke beider Frauen ist der erste Teil dieses Abends. Germaine Acogny und Malou Airaudo tauschen sich aus über ihr künstlerisches Schaffen und das in den jeweiligen Körper eingeschriebene, tänzerische Wissen. Sie reflektiern über ihre Position zum Jahrhundertwerk „Das Frühlingsopfer“, denn beide haben es getanzt. Sie suchen nach „common ground[s]“, also nach gemeinsamem Wissen und Anknüpfungspunkten. Und so entwickelt das Duett mit jeder vergehenden Minute einen Sog, der mit einer Komposition von Fabrice Bouillon untermalt ist.

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Common-Ground©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

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Die beiden fast 80-jährigen Frauen bewegen sich langsam und wissend über die Bühne. Das Licht gibt den Takt für diese 30-minütige Auseinandersetzung vor: Von der Morgenröte ins dämmernd blaue Abendlicht. Ein Tag wie ein Leben auf der Bühne. Germaine Acogny und Malou Airaudo können als Ahnen der afrikanischen Tänzer*innen und der Choreografie des zweiten Teils verstanden werden; aber wir sehen sie auch ganz konkret als Frauen im Angesicht ihrer fürsorglich-pflegenden Rollen. Wir sehen beispielsweise Waschtröge, in denen sie ihre Verwandten beschwören; wir sehen aber auch lange Stöcke, an denen sie sich festhalten oder diese zum Kampf bereiten. Bewegen sich die beiden mit- oder gegeneinander auf der Bühne? Gehen sie gemeinsame Wege, oder ist der Drang stärker, die andere zu überholen und ganz offensichtlich links liegen zu lassen? Eine subtile Auseinandersetzung weiblicher Konkurrenz und tiefer Freundschaft unter Frauen wird offensichtlich. Welch Opfer diese beiden Damen in ihrem Leben wohl gebracht haben müssen?

Mit allerhöchstem Respekt und Ehrfurcht vor ihrem Alter, Wissen und Körper applaudiert man den beiden und ist dankbar für diesen Einstieg in den zweiten Teil des Abends. Ohne Germaine Acogny, die den afrikanischen Tanz vorangetrieben hat und Malou Airaudo, die Pina Bauschs choreografisches Schaffen in sich selbst und weiterträgt, gäbe es diesen nämlich nicht. Ein riesengroßes Dankeschön.

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Common-Ground©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

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