Im Rahmen von TANZ NRW 2023 in Muenster. Hier nochmals unsere Nachtkritik aus Krefeld:
DIE REPLIKANTEN SIND ZURÜCK…
Julio Cesar Iglesias Ungos und Hans van den Broecks Neuproduktion „Bladerunner!“ beim Festival „Move!“ in der Fabrik Heeder in Krefeld
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Kurzkritik von Bettina Trouwborst
Ein Betrunkener? Ein Ohnmächtiger? Eine merkwürdige Gestalt sitzt vornüber gebeugt auf dem benachbarten Platz in der Fabrik Heeder. Der Kapuzenpulli ist soweit über den Kopf gezogen, dass man kein Gesicht sieht. Die Hände stecken in orangefarbenen Gummihandschuhen – sie sind gefesselt und liegen auf der Rückenlehne der Sitzreihe vor uns. Seltsam verformt ist der Rücken. Als die Vorstellung beginnt und der düstere Sound anschwillt, schluchzt der Kerl, dann schwankt er, zuckt. Plötzlich quetscht der Mann sich zwischen den beiden Zuschauern in der vorderen Sitzreihe durch und stürzt auf die Bühne. Auf dem Sitz hinterlässt er den gepolsterten Kapuzenpulli und gefesselte Gummihandschuhe. Hans van den Broek ist plötzlich hellwach und in seinem Element – als Replikanten-Macher.
Für das Tanzstück „Bladerunner!“, das jetzt beim Festival „Move!“ vor fast ausverkauftem Saal gastierte, zeichnen Julio Cesar Iglesias Ungo und Hans van den Broek verantwortlich. Der Belgier, eigentlich ein renommierter Filmemacher, ist einer von den Bösen. Unter dem Kapuzen-Outfit trägt er eine Art OP-Kittel. Die drei Performer, die in einer Reihe vor ihm am Boden liegen, erweckt er nacheinander mit Pipette, Löffel und kurzer Herzmassage zum Replikanten-Leben. Das Spiel beginnt.
Die Performance spinnt den legendären Science-Fiction-Film von Ridley Scott „Blade Runner“ – philosophisch betrachtet – weiter. Die vor 40 Jahren von Harrison Ford getöteten Replikanten – den Menschen täuschend ähnliche Androiden –, sind also zurück und wollen die Herrschaft übernehmen. Ungo, van den Broek, Virginia Garcia und Alexis Fernandez Ferrera beschwören ein wildes Bildertheater der Künstlichkeit zwischen Gewalt und Gemeinschaftlichkeit. Ungos Anspruch, der Frage auf den Grund zu kommen, wie viel Fortschritt möglich ist, bevor die Seele zerfällt, wird der kubanische Choreograf und Tänzer allerdings nicht gerecht. Zu viel Chaos, kein roter Faden, der das Verhältnis und das Verhalten der einzelnen Figuren skizzieren, geschweige denn erklären würde. Es gelingen einzelne, starke Momente, die sich aber nicht zu einem stimmigen Spannungsbogen fügen.
Tänzerisch ist das Niveau beachtlich.
Kein Wunder: Julio Cesar Iglesias Ungos Tanz-Ästhetik ist beeinflusst von seinen früheren prominenten Arbeitgebern: Die Zeit als Performer bei „Ultima Vez“, dem Ensemble des rabiaten Tanzschöpfers Wim Vandekeybus, der mit seinen halsbrecherischen Choreografien das Publikum gerne schockt, wirkt noch nach. Die rasanten Drehungen in der Luft, die Sturzflüge – sie sitzen noch. Und mit Samir Akika, in dessen Kompanie der Kubaner engagiert war, verbinden ihn nicht nur die Affinität zum Kino und die überbordende Fantasie, sondern auch und die Selbstironie.
Wobei sich Ungo durchaus ein eigenes Profil geschaffen hat. Die Stücke des extrem körperlichen Movers – im Sommer sah man ihn noch in Krefeld im Freibad-Außengelände des alten Stadtbads in der Produktion „Zwischenwelten“ von merighi/merci wirbeln – entführen in verwirrende und auch reflektierte Gedankenwelten. Hochdynamisch und sehr physisch ist nicht nur sein Naturell, sondern auch das choreografische Material, aus dem er seine tanztheatralen Kosmen baut.
So ist die Rückkehr der Replikanten zunächst stark und mysteriös in Szene gesetzt. Beeindruckend, die Verfolgungsjagd im Dunkeln mit Autoscheinwerfern – wobei das „Auto“ sich bei aufhellendem Licht als ein Brett mit zwei Lampen entpuppt. Dann der spannende Zweikampf mit Masken, deren Gesichter an die Filmhelden des Originals erinnern. Und dann, aber da beginnt das Cyberpunk-Werk bereits zu zerfasern, die herrlich ironische Inthronisierung Ungos: einen meterhohen, kegelförmigen Turm aus Zellophan auf dem Kopf, stammelt er dümmlich: „I’m God.“ Ja, die Replikanten, sie sind ein wenig debil. So auch der Typ, der mit einem roten Glitzerherz auf einem Stuhl herumhampelt wie ein Kleinkind und sich auf die Brust schlägt, während das Herz seine Farbe ändert. Mitunter wirkt es ein bisschen albern.
Da ist so vieles, was aneinander montiert ist, ohne, dass es einen rechten Sinn ergibt: eine Art Gewächshaus im hinteren Teil der Bühne, das zwischendurch auch als Gefängnis dient oder die stacheligen Flügel eines Kriegers. Oder das Papphaus mit den Utensilien für einen Kindergeburtstag. Wenn einer der Akteure die anderen drei mit Zellophan quasi mumifiziert und sich selbst in das Gewächshaus zur inneren Einkehr einschließt, endet das Stück – und das ist gut so. Sicher, es ist auch ein Spaß, vor allem offensichtlich für die Akteure. Was den Zuschauer angeht: Wer den Film kennt, hat sicherlich mehr davon.