Gestern im Rahmen von MOVE! 2019

THE WELL IN THE LAKE

Julio César Iglesias Ungo und Helder Seabra in der Krefelder Fabrik Heeder

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Im Abwenden des Blicks

Nachtkritik von Laura Brechmann

Es ist ein Bühnentechniker, der meine Aufmerksamkeit fesselt. Er sitzt in seinem Blaumann mit ausdruckslosem Gesicht am Bühnenrand und stapelt kleine weiße Steine, die kreisförmig um die Bühne angeordnet sind, mit mediativer Ruhe zu Türmchen. Ab und an zieht er an einem Strick, lässt Sand auf die Bühne rieseln, nur um sich dann wieder seinen Türmchen zu widmen. Das Schauspiel in der Bühnenmitte geht ihn nichts an. Der Wahnsinn lässt ihn kalt. Ich beobachte ihn beim Bauen seiner Steintürmchen und finde mich in seiner Teilnahmslosigkeit wieder. Mein Blick schweift immer wieder vom choreografierten Höllentrip der beiden Tänzer Julio César Iglesias Ungo und Helder Seabra ab, die mit der jüngsten Arbeit „The Well in the Lake“ Ungos Albtraum-Szenarien fortsetzen.

The Well in The Lake ©TANZweb.org_Klaus Dilger

The Well in The Lake ©TANZweb.org_Klaus Dilger

Einige bühnentechnische Mittel werden bemüht, damit Ungo und Seabra ihre Vorstellung von Wahnsinn nicht allein tänzerisch nach außen kehren. So gibt es krampfende Körper im Stroboskoplicht; Zweikämpfe im Sandstrahl; und am Ende versinkt alles in einem diffusen Theaternebel, während die Tänzer mit schwarzer Farbe übergossen ihr letztes Pas-de-deux tanzen. Die Choreografie ist das sich-Suchen und sich-Abstoßen von zwei Kreaturen, die den Sinn für die Realität verloren haben. Wie vom Nachtmahr getrieben jagen sie sich durch den eigens geschaffenen Albtraum, treffen aufeinander, üben Druck, finden Halt im Anderen, fassen sich an die Kehle, zum schlimmsten bereit. Doch dann wenden sie sich wie vom elektrischen Schlag getroffen ab, wechseln die Richtung, zittern. Ungo und Seabra agieren wie ein in zwei Hälften gespaltenes Ich. Sie können nicht voneinander lassen und ihre Körper sind beinahe durchweg in Kontakt. Und doch ist es die Anwesenheit des anderen, die sie zusammenbrechen lassen; die ihren Wahnsinn steigert.

THE-WELL-IN-THE-LAKE©TANZweb.org_Klaus-Dilger

THE-WELL-IN-THE-LAKE©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Der Abend wollte die Choreografie eines Albtraums sein. Doch es fehlt die dramaturgische Raffinesse, damit man den Vergleich mit den im Begleittext erwähnten „Beckett’schen Szenarien“ wagen kann. In der Bewegungssprache des schizophrenen Pas-de-deux wurde der Existentialismus von Beckett oder Satre gesucht, doch finden tut man einen an Horrorzirkus erinnernden Versuch. Das was mit einigem technischen Aufwand in „The Well in the Lake“ gezeigt wird ist eben nur eine Vorstellung von Wahnsinn. Anstatt Tiefe finden wir Effekte vor, die einen schnell ermüden.

Doch wenn der Blick abschweift, dann verschwimmt die Realität tatsächlich ein wenig. Denn neben Ungo und Seabra stehen auch die beiden Musiker Christoph Heinze (dessen Künstlername passenderweise „Inhalt der Nacht“ ist) und Stijn Vanmarsenille auf der Bühne. Die Musik, Dark Techno mit experimentellen Sounds durchmixt, wird live produziert und gemischt. Die Sound-Assemblage produziert die Tiefe, die die Choreografie größtenteils vermissen lässt. Zudem, und das ist ein gelungener Clou der Inszenierung, irritiert ihr teilnahmsloses Fixieren des Tanzgeschehen den Rhythmus des Abends. Vanmarsenille trägt dabei einen Motoradhelm und eine schwarze Lederjacke. In dieser Kostümierung prüft er, während die beiden Tänzer in ihren Wahnvorstellungen versinken, die Kabel, spielt Klavier oder E-Gitarre und beschaut auf dem Lautsprecher sitzend die beiden Tänzer. Ebenso wie das Bauen der Steintürme fesseln eben diese Brüche in der Dramaturgie die Aufmerksamkeit, da sie nicht einzuordnen sind. Durch die Anwesenheit dieser Gestalten, die am Rande unseres Sichtfelds auftauchen, wird die klare Lesart des Abends aus dem Gleichgewicht gebracht. Ein beunruhigendes Gefühl, das einen vielleicht dann doch an seinen letzten Albtraum denken lässt.

THE-WELL-IN-THE-LAKE©TANZweb.org_Klaus-Dilger

THE-WELL-IN-THE-LAKE©TANZweb.org_Klaus-Dilger