Letzter Teil der Retrospektive von Jürgen Sauerland-Freer

30 Jahre Zeitgenössischer Tanz in Krefeld

NOT MACHT ERFINDERISCH

(aus der Veröffentlichung in Heimat 2007 von Jürgen Sauerland-Freer)

V. Produktion als Perspektive

Über die Jahre hinweg war es zunehmend gelungen, die Fabrik Heeder mehr und mehr zu einem Ort von Uraufführungen zu entwickeln und zu profilieren. Dorothee Monderkamp und ich hatten immer wieder Gruppen angeregt, für die Fabrik Heeder neue Produktionen zu erstellen und dies durch Bereitstellung unserer Räumlichkeiten für Proben gestützt. Diese Kooperationen hatten überdies den Vorteil, im Gegenzug kostengünstige Aufführungen (keine oder geringe Gagenzahlung) zu erhalten – Not macht erfinderisch.

Wir nahmen dies zum Anlass, den Produktionsaspekt in ein neues Format einfließen zu lassen. Das Projekt „fused – TanzKunst in Krefeld“ wurde als Forum für neue künstlerische Allianzen von uns konzipiert. Vier Choreographinnen und Choreographen aus Nordrhein- Westfalen wurden eingeladen, ganz bewusst mit Krefelder Künstlerinnen und Künstlern in einen kreativen Dialog zu treten. Als Ergebnis dieser von uns angeregten kreativen Zusammenarbeit konnten mit Unterstützung der Kunststiftung NRW im Herbst 2005 vier Uraufführungen dem Publikum vorgestellt werden: „Auf Glas. Eine ‚Tanz‘ Performance“ des Choreographen Mark Sieczkarek und des Krefelder Glaskünstlers Ralph-Rainer Matthis, „des hommes“ des Choreographen Morgan Nardi und des Krefelder Musikers Waldo Karpenkiel, „Wenn der Fluss zum Meer wird. Ein Tanzstück über die Polaritäten und Kräfte des Lebens“ der Choreographin Sabine Seume und des Krefelder Bildhauers Hans Joachim Albrecht sowie „Inner Landscapes“ der Choreographin Suna Güncü und der Krefelder Malerin Mauga H. Hausherr. Die von uns gestifteten künstlerischen Allianzen haben in allen Fällen zu eindrucksvollen Ergebnissen geführt.

Tanz in Krefeld_Sabine_Seume_Ensemble_©Ursula Kaufmann

Tanz in Krefeld_Sabine_Seume_Ensemble_©Ursula Kaufmann

Bereits zum achten Mal konnte ein Jahr später – dann wieder im Biennale-Rhythmus – „MOVE!“ gestartet werden, das mit Unterstützung der Kulturstiftung der Sparkasse Krefeld und der Kunststiftung NRW uns vom Programmumfang „Wunschlos glücklich“ machte, so der Titel der von der Gruppe RAZ gezeigten Produktion. Die cie. toula limnaios aus Berlin brachte mit „short stories“ Hauptstadt-Flair in die Fabrik Heeder, und mit Sabine Seumes „Die Ruhe nach dem Sturm“ und Mitsuru Sasakis „Fridas Einsamkeit“ wurde von uns angeregte Tanz-Improvisation zum beherrschenden Thema eines Theaterabends.

Eingeladen hatten wir u.a. auch das movingtheatre. de aus Köln, das bereits die offizielle Eröffnung des Anbaus der Fabrik Heeder am 22. April 2006 mit dem Tanzstück „ONE TWO THREE“ eindrucksvoll bereichert hatte. Vor dem Hintergrund dieser auch allgemein intensivierten Arbeitskontakte wurden wir Gründungsmitglied der Tanzproduzenten- Konferenz NRW, ein Zusammenschluss der Tanzspielstätten in NRW, die ausdrücklich in ihren Häusern auch zeitgenössischen Tanz produzieren. Ziel dieses Zusammenschlusses war, die begrenzten Ressourcen für den Tanz in NRW strukturell besser zu nutzen, Vorstellungsprogramme und Koproduktionen besser zu koordinieren und zu vermitteln.

Tanz in Krefeld©Morgan-Nardi©Das-Mechanische-Auge

Tanz in Krefeld©Morgan-Nardi©Das-Mechanische-Auge

Von der Tanzproduzenten-Konferenz NRW wurde das Festival „tanz nrw“ ins Leben gerufen, um nicht nur Tanzinteressierten einen umfassenden Überblick über aktuelle Tanzproduktionen aus NRW zu bieten, sondern gezielt auch Veranstalter aus dem In- und Ausland auf das vielseitige professionelle Tanzschaffen in NRW aufmerksam zu machen. Erstmalig fand das von der Staatskanzlei des Landes NRW großzügig unterstützte Festival vom 10. bis 13. Mai 2007 statt und wurde vom tanzhaus nrw in Düsseldorf, von PACT Zollverein in Essen, vom Kulturbüro der Stadt Wuppertal, vom Kulturamt Köln, von der Kulturabteilung der Stadt Viersen und dem Kulturbüro der Stadt Krefeld gemeinsam inhaltlich und organisatorisch getragen und ausgerichtet. 26 abendfüllende Produktionen wurden insgesamt präsentiert, dabei – in Krefeld mit Unterstützung der Gebr. Kickartz Stiftung – CocoonDance aus Bonn mit „Editions of you“, In-Jung Jun, Company Blue Elephant aus Düsseldorf mit „Gift“ und das Tanztheater Christine Brunel aus Essen mit „Assemblage“.

Für das Krefelder Programm hatten wir zudem den Krefelder Tänzer und Choreographen Andreas Simon beauftragt, eine Open air-Tanzperformance zu entwickeln. Er stellte damit eine Verbindung zwischen den beiden Gebäudeteilen der Fabrik Heeder her und leitete nach der jeweiligen Tanzaufführung zu einer sich anschließenden Leinwandprojektion der Tanzfotografien von Matthias Zölle über. Die Tanzproduzenten-Konferenz NRW hat mit diesem Aufschlag einer neuen – auch international beachteten – Plattform für den zeitgenössischen Tanz in Nordrhein-Westfalen spürbare Impulse gesetzt.

Any Body Sounds_Emanuele Soavi INcompany_Move! Festival in Krefeld ©TANZweb.org Klaus Dilger

Any Body Sounds_Emanuele Soavi INcompany_Move! Festival in Krefeld ©TANZweb.org Klaus Dilger

VI. Anspruch und Herausforderung

Vor dem abschließenden Ausblick zuerst ein dringend notwendiger Rückblick: Der zeitgenössische Tanz reicht in Krefeld weit über 1989 hinaus zurück, zumindest was wichtige Vorläufer angeht, und das mit weitreichender, mit historischer Bedeutung.

Thomas Thorasuch, der stellvertretende Leiter des Deutschen Tanzarchivs in Köln, bemerkt hierzu in einem internen Arbeitspapier: „ Am 14. April 1955 erfolgte in Krefeld unter dem Ehrenvorsitz von Professor Kurt Joos die Gründung der „Gesellschaft zu Förderung des künstlerischen Tanzes“. Initiator Heinz Laurenzen, ein Stadtinspektor der Stadt Krefeld (!), realisierte damit seine Idee, zur Entwicklung der internationalen Tanzszene in Deutschland einen schulischen und geistigen Beitrag mit dem Aufbau einer Tanzakademie zu leisten. Vorgesehen war die Organisation von Vorträgen, Aufführungen, Arbeitskreisen und Tagungen. Die Stadt Krefeld – in Person ihres Oberbürgermeisters Johannes Hauser – unterstützte das Vorhaben der Gesellschaft tatkräftig und stellte „Studio“ und Geschäftsstelle zur Verfügung.

Rolf-Garske-und-Rosalia-Chladek@Deutsches-Tanzarchiv-Köln

Rolf-Garske-und-Rosalia-Chladek@Deutsches-Tanzarchiv-Köln

1957 veranstaltete die Krefelder Initiative die erste Internationale Sommerakademie des Tanzes. Auch in den nächsten drei Jahren fanden die vierzehntägigen Sommerkurse in Krefeld bei stetig steigender Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (von 174 im Jahr 1957 auf 402 im Jahr 1960) statt. Exklusive Dozentennamen zierten das Programm Peggy von Pragh, Rosalia Chladek, Boris Kniaseff, Dore Hoyer, Tatjana Gsovsky, Erich Walter, Marcel Luipart, José de Udaeta, Max Niehaus und viele andere mehr. Stetig steigend war auch der Anteil der ausländischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Lehrende wie Schüler), der bewies, welche Anziehungskraft die Sommerakademie schon bald auch im Ausland besaß. Mit durchweg positiven Folgen für den Tanz in der Bundesrepublik Deutschland. Oder wie eine deutsche Tänzerin es in der Erinnerung an jene Jahre aussprach: „Wir wussten in Deutschland ja nichts vom Tanz – und plötzlich war die Fülle des internationalen Tanzes zu Gast in Krefeld. Waren wir früher nach Paris gefahren, um »internationale« Tanzluft zu schnuppern, so war jetzt die Fahrt zur Sommerakademie nach Krefeld […] das Muß.“

Die Sommerakademie diente jedoch nicht nur der Elitenbildung von Tänzerinnen und Tänzern; sie war, gerade in den Jahren 1957 bis 1960, auch Austragungsort erbitterter Auseinandersetzungen über die soziale Stellung des Tänzers in Deutschland und ihre dringend notwendige Verbesserung.

1961 verlegte die Gesellschaft ihren Sitz nach Köln, wo die Internationale Sommerakademie des Tanzes noch bis vor wenigen Jahren regelmäßig stattgefunden hat. Heinz Laurenzen ist am 16. Juni 2005 in Köln verstorben. Von seiner Bedeutung für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland künden zahlreiche Nachrufe. Es ist wichtig, diesen Tanzförderer mit seiner Lebensleistung auch in Krefeld wieder ehrend ins Gedächtnis zu rufen!

Die Fabrik Heeder hat sich über die Jahre hinweg als Spiel- und Produktionsort für den zeitgenössischen Tanz profiliert und innerhalb der Tanzszene mindestens landesweit ein gewisses Renommee erworben. Mit großen Häusern wie dem tanzhaus nrw in Düsseldorf oder PACT Zollverein in Essen, selbst mit dem Theater im Pumpenhaus in Münster können wir uns nicht vergleichen, doch konstruktive Worte fand vor Jahren die damalige Geschäftsführerin der Gesellschaft für zeitgenössischen Tanz NRW, Anne Neumann- Schultheis, mit den Worten: „Zumindest am Niederrhein seid Ihr mit dem Tanzangebot in der Fabrik Heeder einzigartig!“

Dore-Hoyer-Sommerakademie@Deutsches-Tanzarchiv

Dore-Hoyer-Sommerakademie@Deutsches-Tanzarchiv

Dass das neben unserer Positionierung in Nordrhein-Westfalen so ist und diese Aussage dennoch keinerlei Grund zum Ausruhen gibt, sondern vielmehr nach beständiger Veränderung und Verbesserung verlangt, liegt in der Faszination des Tanzes selbst begründet. Es ist die physische Eindringlichkeit, die körperhafte Präsenz, die unendliche Flüchtigkeit dieser Kunst. Es ist der kosmopolitische Charakter des modernen Tanzes, es ist das crossover, die Verschränkung unterschiedlichster Kunstsparten mit dem Tanz, es ist die Intensität und Disziplin, die Hingabe der ja zumeist noch jungen Tanzschaffenden an ihre Kunst, die auch unsere Arbeit immerfort motiviert.

Keine Atempause, es geht voran!

Anmerkungen

1 Révoltade bezeichnet einen umwälzenden Umsprung, wobei über das seit-, vor- oder rückw.rts gehobene und gehaltene Spielbein mit dem gestreckten Standbein hinweggesprungen wird, ohne dass das Spielbein Ort und Richtung verändert (aus: Horst Koegler: Kleines Wörterbuch des Tanzes, Stuttgart 1999.) Prägnanter kann unser langjähriges Erleben gar nicht ausgedrückt werden, denn anstrengend und schwierig war die Etablierung des zeitgenössischen Tanzes in der Fabrik Heeder jenseits aller zu verzeichnenden Erfolge natürlich auch. Zwar gab

es keine kulturpolitischen Hemmnisse, sondern ganz im Gegenteil Zuspruch. Doch mit immer mehr begrenzten Ressourcen entstanden große Herausforderungen, die viel Kraft verlangten und verlangen. Jede künstlerisch besonders sperrige Produktion kostete Publikum, das erst wieder mühsam zurückgewonnen werden wollte. Die

Presse hat den zeitgenössischen Tanz in der Fabrik Heeder von Beginn an aufmerksam und interessiert begleitet. Manches Mal hätten wir uns von der Krefelder Öffentlichkeit dennoch ganz allgemein ein wenig mehr aktivunterstützenden Rückhalt gewünscht für diese „neue“ Sparte, die es insgesamt immer weniger einfach hat und bei Kürzungen überall fast regelmäßig zuerst getroffen wird. Denn mit unserem Programm in der Fabrik Heeder werden wir in der jüngsten Vergangenheit neben unserem herausgebildeten Profil auch deshalb immer deutlicher sichtbar, weil – fatalerweise – die Anzahl der ausgewiesenen Tanzspielstätten im Lande immer mehr schrumpft. Diesem Trend steht die Fabrik Heeder entgegen! 2 Der Autor ist Leiter des Kulturbüros der Stadt Krefeld.

©PRESSEBILDER-Klaus-Dilger_TANZWEB-Jürgen Sauerland-Freer

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