TEIL II 30 JAHRE ZEITGENÖSSISCHER TANZ

FABRIK HEEDER KREFELD

Zu unserem Gespräch mit Jürgen Sauerland-Freer

aus dessen Veröffentlichung 2007 in HEIMAT:

II. Suchbewegungen /

Entwicklung

Das ursprünglich für den Herbst 1994 geplante Vorhaben, nach „Schlagfertig“ und „Moderne Zeiten“ eine weitere thematisch gebundene Reihe aufzulegen, überzeugte mich selbst nicht mehr. Zu sehr hatte mich der zeitgenössische Tanz in seinen Bann gezogen. Der Tanzspielort Fabrik Heeder brauchte jetzt etwas Eigenes. Es galt, eine neue Linie zu entwickeln und hierzu erhielt ich freie Hand und die Unterstützung sowohl des damaligen Kulturamtsleiters Helmut Kauert wie die des Kulturdezernenten Roland Schneider.

Die Tanzszene war mir inzwischen vertraut, so dass es keiner großen Anstrengung mehr bedurfte, ein interessantes, gleichwohl akzentuiertes erstes Programm zusammenzustellen. Mit Daniel Goldin, Mitsuru Sasaki, mind the gap, dem Ballett Schindowski und der „Compagnie Irene K.“ aus Belgien trat „MOVE! – Krefelder Tage für modernen Tanz“ auf den Plan. Bei der Namensgebung hatten Kim vom Kothen von mind the gap und Gianni Malfer vom Ballett Schindowski ihre Hand mit im Spiel. Erstmalig gab es mit der Tanzwerkstatt „Ballett Schindowski tanzt für Kinder“ ein Angebot für die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer. Der Film „Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer in Wuppertal?“, eine Plakat- und eine Buchausstellung ergänzten das eigentliche Tanzprogramm. „Mit dieser neuen Veranstaltungsreihe wollen wir unser bisheriges Engagement für den modernen Tanz nachdrücklich weiterverfolgen und damit auch ganz bewusst eine Bühnenkunst fördern, die mit ihrer Kreativität, Phantasie und Innovationskraft zu überzeugen weiß. […]

„Aiguardent“ von Marta Carrasco

„Aiguardent“ von Marta Carrasco

Und wir wollen vor allem dem engagierten und kritischen Publikum erneut viele Facetten dieser auf den ersten Blick manchmal sperrig erscheinenden Kunst präsentieren, der es trotz ihres flüchtigen Charakters gelingt, mit ausdrucksstarken Bewegungen und Bildern nachwirkende Eindrücke und Erlebnisse zu schaffen“, so klang es im Vorwort des ersten „MOVE!“-Programmheftes – zu viel versprochen?

Mit diesem nicht ganz unberechtigten Selbstbewusstsein gelang es Krefeld nach entsprechender Bewerbung, als Hauptaustragungsort für das „Meeting Neuer Tanz NRW 1995“ vom NRW-Kultursekretariat ausgewählt zu werden. Zugleich wurde ich in das Gremium für die Programmauswahl berufen. Projektleiter war Gianni Malfer, mit dem mich alsbald eine freundschaftliche Kollegialität verband und der mir in den Folgejahren als ausgewiesener Tanzexperte ein hervorragender „Lehrmeister“ wurde. Offiziell eröffnet und unter Einbeziehung eines großen geladenen Gästekreises der nordrhein-westfälischen Tanzszene wurde das „Meeting Neuer Tanz NRW“ am 23. September 1995 im Stadttheater mit der Produktion „Papierene Kinder“ von Daniel Goldin, dessen Arbeit so sehr überzeugte, dass er noch am selben Abend eine Verpflichtung für das Stadttheater Münster erhielt, ein Engagement, das noch heute währt. Die Ehre, Hauptaustragungsort zu sein, war mit der Verpflichtung verbunden, das gesamte Festivalprogramm zu zeigen. So umfasste dieses „Meeting“ neben der Eröffnung weitere zehn in der Fabrik Heeder gezeigte Produktionen, davon vier aus dem Gastland Belgien von Alain Platel, Isnel da Silveira, Bert van Gorp/ Sean Tuan John, Karin Vyncke sowie Annamirl van der Pluijm, die das Auswahlgremium bei einer Sichtungsreise bei einem Tanzfestival im belgischen Gent ausgesucht hatte. Mit der Beteiligung am interkulturellen Projekt der Landesregierung „Dialoog Cultuur – NL in NRW“ konnten wir 1996 erstmalig im Tanzbereich intensivere Kontakte in die Niederlande ausbauen. Neben Leine & Roebana, Thom Stuart sowie den Ergebnissen eines bilateralen choreographischen Wettbewerbs wurde die von Hans Tuerlings geleitete Tilburger Compagnie RAZ gezeigt, mit der uns in den Folgejahren eine intensive Zusammenarbeit verbinden sollte. Immer wieder wurde das Tanzprogramm durch Einzelgastspiele bereichert und gestaltet. Mit Recht hervorheben darf man sicherlich die Premiere der Compagnie Terza E Uno mit „One Breath“ von Suna Güncü und „Dankhang“ von Henrietta Horn, der späteren und derzeit immer noch amtierenden künstlerischen Leiterin des Folkwang Tanzstudios (ab 1999 und gemeinsam mit Pina Bausch) – eine frühe Bestätigung für die Richtigkeit des hier eingeschlagenen Weges, wie sich natürlich erst später erweisen konnte.

Marta Carrasco

Marta Carrasco

III. Etablierung/

Eigenständiges Profil

Nach dem Erfolg des ersten „MOVE!“ wagte das zweite ein exponierteres Programm. Neben dem Gelsenkirchener Ballett Schindowski, der zwischenzeitlich in Köln beheimateten Gruppe mind the gap sowie dem Bochumer Tanztheater aus der Zeche traten die niederländische Compagnien RAZ und Peter Bulcaen, die britische Ricochet Dance Company sowie Karin Vyncke aus Belgien auf. Das Folkwang Tanzstudio präsentierte Mark Sieczkareks legendäres „Drops of Rain in perfect Days of June“. Mit „Kon-Front“ stellte sich die neue Ballett-Direktorin an den Vereinigten Städtischen Bühnen Krefeld und Mönchengladbach, Heidrun Schwaarz, erstmalig dem Krefelder Publikum vor. Mit dem in Wuppertal lebenden Japaner Mitsuru Sasaki hatte sich nach seinem ersten Gastspiel ein guter Kontakt ergeben, so dass er uns eine neue Produktion erarbeitete. „Vom Walde“ kam als Premiere im März 1997 heraus und war der Start für viele weitere Uraufführungen seiner Stücke in der Fabrik Heeder.

The Hidden Door_Iglesias Ungo_MOVE Krefeld_ ©TANZweb.org

The Hidden Door_Iglesias Ungo_MOVE Krefeld_ ©TANZweb.org

Die Vorbereitungen für das nächste „Meeting Neuer Tanz NRW“ führten nach Barcelona, um neben nordrhein-westfälischen Compagnien das katalanische Tanzschaffen beispielhaft zu präsentieren. Sechs Produktionen wurden in der Fabrik Heeder im März 1997 präsentiert, darunter die eindrucksvollen Arbeiten „Aiguardent“ von Marta Carrasco und „Wad-Ras“ von Increpación Danza aus Barcelona. Die Brasilianerin Sayonara Pereira, die mit „Saudades“ als „junge Choreographin“ präsentiert worden war, brachte drei Monate später ihre neue Produktion „PULS“ als Premiere in der Fabrik Heeder erfolgreich heraus. Acht Einzelgastspiele weiter (u.a. mit der österreichischen Editta Braun Company, den Mixed Pickles aus Köln, Sabine Seume aus Düsseldorf, Dyane Neiman aus Bielefeld, der Temper Temper Dance Company aus Gelsenkirchen und einer weiteren Premiere von Sayonara Pereira) hatte „Coal and dust“ von Robert Poole am 29. August 1998 Uraufführung in der Fabrik Heeder. Gemeinsam mit dem Stadttheater und Kulturamt Duisburg sowie dem Kulturreferat Viersen war dies die erste und kraft der regionalen Kulturförderung des Landes auch in dieser Dimension angemessen finanzierbare große Auftrags produktion. Mit Robert Poole allerdings hatten wir einen „zu guten“ Griff getan, denn die eigentlich über die erste Produktion hinaus langfristig angelegte Zusammenarbeit kam leider nicht zustande, da er einen Ruf als Ballettdirektor ins österreichische Linz annahm. Unerwartete österreichische Unterstützung ermöglichte für das nächste „MOVE!“ eine Vorbereitung mit leichter Hand.

©PRESSEBILDER Klaus Dilger_TANZWEB Mitsuru Sasaki

©PRESSEBILDER Klaus Dilger_TANZWEB Mitsuru Sasaki

Anlässlich der zu der Zeit laufenden österreichischen EU-Ratspräsidentschaft „schenkte“ uns das österreichische Bundeskanzleramt im Rahmen eines Kulturexports für die 3. Krefelder Tage für modernen Tanz drei Wiener Tanzcompagnien: Pilottanzt mit „Things from above“, Georg Blaschke & Comapgnia Atti Impuri mit „Kafka. Die Verwandlung. Getanzt.“ und Dans Kias mit „Do your desires still burn“. Mit Mark Sieczkarek, Karin Vyncke und einer erneuen Premiere von Mitsuru Sasaki waren zudem gute Bekannte dabei, allesamt mit interessanten neuen Stücken. Einen schrillen Akzent setzte The Charnock Company aus London mit „Heaven and hell“, leider jedoch ohne ihren Leiter Nigel Charnock, der live auf der Bühne seinesgleichen sucht. Erneut wurde Krefeld 1999 Hauptaustragungsort für das landesweite „Meeting Neuer Tanz NRW“, das mit der Premiere „Ich bin meine Welt“ der Temper Temper Dance Company am 13. September 1999 im Stadttheater eröffnet wurde. Raimund Hoghe folgte zwei Tage später mit der Premiere „Lettere amorose“ in der Fabrik Heeder. Das „Meeting Neuer Tanz“ veränderte sein Gesicht und setzte verstärkt auf neue Produktionen. Die Bedeutung des Gastlandes wurde allerdings noch beibehalten. In Krefeld waren Produktionen der Compagnie drift, von Foofwa d’Imobilité, Philip Egli sowie Gregor Metzger, Martin Zimmermann und Dimitri de Perrot aus der Schweiz an insgesamt drei Abenden zu sehen. Im Auswahlgremium, dem ich ein drittes und letztes Mal angehörte, wurde über eine noch radikalere Neuausrichtung des Meetings im Hinblick auf die Erteilung von Auftragsproduktionen diskutiert, noch nicht ahnend, dass dieses Format lediglich noch ein Mal durchgeführt werden sollte – mit Konsequenzen auch für die konzeptionelle Arbeit in der Fabrik Heeder. Mit der Regelmäßigkeit von „Meeting Neuer Tanz NRW“ und „MOVE!“, einer ganzen Reihe von Einzelgastspielen, darunter immer wieder auch Premieren, hatte die Fabrik Heeder in der nordrhein-westfälischen Tanzlandschaft ihren Platz gefunden und wurde in Fachkreisen ernst genommen. Vor allem aber spürten wir, wie viele Einzelgespräche zeigten, die Zuneigung der NRW-Compagnien zur Fabrik Heeder.

Jürgen Sauerland-Freer | 2007 in HEIMAT

Teil IV und V folgen

Mark Sieczkarek Drops_of_Rain..._FTS__20.01.2012__Foto_Ursula_Kaufmann

Mark Sieczkarek Drops_of_Rain…_FTS__20.01.2012__Foto_Ursula_Kaufmann