MOVE! – Festival für Zeitgenössischen Tanz – Krefeld

Bevor der Vorhang wieder fällt…

Nachtkritik von Bettina Trouwborst

Bevor der Vorhang zum nächsten Lockdown wieder fällt, brachte das Krefelder Kulturbüro noch schnell den dritten von sechs Abenden des Festivals „Move! – 19. Krefelder Tage für modernen Tanz“ über die Bühne in der Fabrik Heeder. Für die Künstler und das Kulturbüro ist der vorzeitige Abbruch natürlich ein herber Schlag.

Immerhin, Maura Morales und bodytalk konnten ihre eigens für das Festival kreierten Arbeiten noch zur Uraufführung bringen. „Verweile doch, du bist so schön!“ – mit diesem Titel sprach die Choreografin und Tänzerin Maura Morales in ihrem neuen Solo im ersten Teil des Programms sicher den meisten Zuschauern aus der Seele. Allerdings weniger in Bezug auf ihr eigenes Solo.

Cooperativa-Maura-Morales©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Mit dem Zitat aus Goethes „Faust“ weckt die Kubanerin Erwartungen, die sie nicht ansatzweise erfüllt. Sie verweist auf die berühmteste Wette der Weltliteratur. Darin erklärt sich der Gelehrte Faust, ein Mann, der kein Glück mehr empfinden kann, bereit, für einen einzigen erfüllten Moment seine Seele zu verkaufen. Von magischem Sekundenglück kann bei Morales keine Rede sein: Sie versteht die schönen Zeilen als Ironie und beschert dem Publikum stattdessen 30 Minuten Ungemach: nerviger elektronischer Sound, sinnlose Technik und angestrengter, nichtssagender Tanz. Das ist herb enttäuschend, kennt man die Künstlerin doch als Choreografin sensibler, durchdachter  Tanzstücke wie „Wunschkonzert“, „Don Nadie“ oder „Sisyphus war eine Frau“.

Cooperativa-Maura-Morales©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Es beginnt mit der Verkabelung. Der Komponist und Musiker Michio, ihr Partner in der Kunst und im Leben, bringt liebevoll ein flaches Mikro unter Morales‘ Kleidung am Rücken an. Das ist im zeitgenössischen Tanz gerade wieder angesagt.  Dann streicht er vertraulich über ihren Arm und die Tänzerin beginnt ihre Performance. „Welcher Augenblick hat dein Leben verändert? Welchen Augenblick möchtest du für immer behalten?“ Ihre Stimme hallt elektronisch verzerrt. Morales lehnt sich an eine Säule. Ein unangenehmes Knistern wird mit jedem Kontakt ihres Rückens hörbar. Der Musiker auf der anderen Seite der Bühne steuert die Soundkulisse. Dramatisch lässt er sie anschwellen, wenn die Kubanerin sich mit ungeheurer Gelenkigkeit und Geschmeidigkeit über den Boden rollt und schlängelt, ihre Gelenke und Sehnen überdehnt. Nein, glückliche Momente erlebt sie mitnichten. Sie steigert sich in eine Verstörtheit hinein, zuckt in mechanischen Moves, wird zum Roboter und zur  Breakdancerin. Es wird ruhiger, Michio zupft kurz an seiner E-Gitarre und Maura Morales kommt am Boden zur Ruhe. Als sie sich wieder aufrichtet, hat sie einen Rundspiegel vor dem Gesicht. Was sie damit zum Ausdruck bringen will, weiß man nicht. Vielleicht eine Suggestion, dass auch dem Zuschauer in diesen Corona-Zeiten nach Über-den-Boden-Rollen zu dramatischer E-Musik ist? Gut, dass Michio in der Ecke da ist und sie sich am Ende auf seinen Schoß setzen kann. Nun bekommt er den Spiegel aufgesetzt. Warum auch immer.

Cooperativa-Maura-Morales©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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bodytalk_Reisefieber©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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bodytalk „REISEFIEBER“

Eine Entdeckung aber ist der junge Tänzer aus Curaçao, Justin Brown. Der Lockdown im Frühjahr hielt ihn in Deutschland fest, als er mit dem Ensemble bodytalk in Münster arbeitete. Mittlerweile hat ihn das Staatstheater Mainz  engagiert. Dort kann man sich glücklich schätzen, wie das explosive Energiebündel in „Reisefieber“, choreografiert von Yoshiko Waki/bodytalk, unter Beweis stellt. Darin verwandelt sich das Talent zu Beginn auf einem Video in einen Kiebitz und streift durch den Wald. Der Tänzer als Zugvogel dominiert als Motiv diese beeindruckende Miniatur. Hier stimmt alles: Technik, Musik, Live-Tanz, Kulissen und Timing.

Er passt wunderbar in diese Waldkulisse. Die Arme flattern hoch bis über den Kopf. Dieser ist neugierig gereckt und bewegt sich ruckartig zur Seite. Ein paar Schritte nach vorn, dann hält Justin Brown abwartend inne. Und schon gleitet er wieder mit seinen langen Gliedmaßen durch das Holz, als wäre er hier aufgewachsen. Dann ein kurzes Zwiegespräch mit einem Vogelkopf aus Holz – gewissermaßen unter Gleichgesinnten. Faszinierend, diese Anverwandlung eines Kiebitz‘. Auf der Bühne ist der junge Mann aus Curaçao sein eigener Zuschauer. Aufmerksam verfolgt er das Video – bis es erlischt und das Original übernimmt.

bodytalk_Reisefieber©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Was für ein Mover! Der Tänzer-Nomade feiert sich selbst, das Leben, die Freiheit. In schwarzen Shorts, weißem Netzhemd und Sportschuhen füllt er die Szene mit ineinander fließenden, raumgreifenden Sequenzen. Es ist eine Lust, dabei zuzusehen, wie sein Bewegungsdrang in choreografischen Ideen elegante Gestalt annimmt. Sicher, auch nachdenkliche Momente begleiten einen Nomaden.

Yoshiko Waki und Rolf Baumgart wären nicht bodytalk, wenn sie es dabei beließen. In ihrem ersten Solo – nach zwölf Jahren – ist ihnen der spielerische Gestaltungstrieb nicht abhanden gekommen. Von einer weißen Projektionswand wird der Schatten von Brown fotografiert, an die Wand fixiert und ihm als Tanzpartner – auch buchstäblich – an die Hand gegeben. Oder: wunderschön das Spiel mit bis zu vier blauen Lichtpunkten. Sie ziehen Linien auf der hellen Fläche, die zu sich Flugzeugen, Herzen oder Bergen formen.

bodytalk_Reisefieber©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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