MOVE! 22. Ausgabe des Festivals in Krefeld

Düstere Visionen, die gefangen nehmen…

Die Bonner Compagnie CocoonDance gastiert mit „Body Shots“ beim Festival „Move! – movextended“ in der Fabrik Heeder/Krefeld

Nachtkritik von Bettina Trouwborst

Was ist der Mensch? Intellekt und Körper? Muskeln, Knochen, Organe, Haut und Gehirn? Die Choreografin Rafaële Giovanola denkt weiter. Heutzutage kann der homo sapiens dank künstlicher Intelligenz in andere Dimensionen vordringen. Doch ist es keine wünschenswerte, sondern eine gruselige Vision, die die „Faust“-Preisträgerin 2022 in ihrer neuen Produktion „Body Shots“ in den Raum stellt.

Etwas unschlüssig steht ein Quintett in Schutzanzügen in einer Ecke des weißen Bühnenquadrats, das mit einem weiteren weißen Quadrat aus Stoff überdacht ist. Die drei Frauen und zwei Männer verlagern ihre Positionen wie in Zeitlupe. Dabei werden die Bewegungen immer steifer, der Blick ist starr, ja, vollkommen ausdruckslos. Wie ferngesteuert scheinen sie. Sind es die Überlebenden einer Apokalypse, von KI gelenkt? Oder sieht so der Mensch der Zukunft aus, von KI unterstützt?

Melancholie schwebt über der in sterilem Weiß gehaltenen Szenerie. Die Soundkomposition von Jörg Ritzenhoff mit vereinzelten Stimmen von Ferne erinnert an sorgloses Leben. 45 Minuten lang halten die Tänzer*innen ihre immense Körperspannung. Von der Schwerkraft zu Boden gezogen, liegen sie dort, in kaltem Licht, eingefroren in einem Impuls des Aufbäumens, einen Arm in der Luft, ein Bein leicht verdreht oder auch alle Viere gen Himmel gestreckt wie hilflose Käfer. Einige zucken. Doch dann, unmerklich, dringen Reste von Menschlichkeit durch.

Bodyshots_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger1

Bodyshots_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger1

„Body Shots“ ist die jüngste Produktion in der Reihe des freien Bonner Ensembles CocoonDance über neue Bewegungsformen. Seit 2016 hat es sich mit seinen Recherchen über die Denkfigur des noch „ungedachten Körpers“ der ästhetischen Abstraktion verschrieben – und so manche beeindruckende Kreation auf die Bühne gebracht: Von dem Männerstück „Momentum“, dem faszinierenden und unerreichten Frauenstück „Vis Motrix“, „Ghost Trio A und B“ über „Hybridity“ und „Standard“ jetzt zu „Body Shots“. Ob Humanoide, Androide, Cyborgs oder Avatare – die weißen Gliederpuppen verstören und berühren zugleich. Wenn die bisherigen von Rafaële Giovanola erdachten Figuren durch ihre ästhetischen Formen und Moves faszinierten, nehmen die Gestalten in den weißen Anzügen vor allem deshalb gefangen, weil sie eine Vision aufzeigen. Und die ist düster.

Die Kreatur der Zukunft bewegt sich vornehmlich am Boden. In unendlichen Variationen, jeder für sich, oder, wie zufällig, in Gruppen, vegetieren sie formschön vor sich hin. Choreografisch einfallsreich geschieht das, beispielsweise wenn die Figuren, fast schwebend, in Seitenlage ausharren. Und dann flackert in den entseelten Wesen plötzlich so etwas wie Seele auf. Als ob ein Systemabbruch vorläge und das Menschliche mit seiner Sehnsucht nach Gemeinschaft in ihnen durchschlüge, nähern sich die Füße einander. Doch es reicht nur, um die Gelenke aneinander zu legen zu einem verloren wirkenden Bruchstück eines Freskos. In einer anderen Szene sind es die Handgelenke. Wunderbare Einfälle, die nahe gehen.

Die Recherchen zu neuen Bewegungsformen von Rafaële Giovanola und Rainald Endras (Dramaturgie), wissenschaftlich fundiert, bleiben ein aufregender Prozess. Immer wieder gelingt es, neue Bewegungsmuster mit nie gesehenem Vokabular zu kreieren – und diese mit einem zeitgeistig relevanten Überbau in Verbindung zu bringen. Ein ungeheuer kreativer Akt, der kein Ende zu kennen scheint.

Bodyshots_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Bodyshots_CocoonDance©TANZweb.org_Klaus-Dilger