Videoimpressionen “ATARA” von Reut Shemesh
und unsere Nachtkritik:
„We’re suppressed and we love it…”
Reut Shemeshs „Atara – for you who has not yet found the one“ beim Festival tanz nrw 19 in der Fabrik Heeder in Krefeld
Von Bettina Trouwborst
Atara ist ein hebräischer weiblicher Vorname, auch ein Ort im Westjordanland. Aber um letzteren dürfte es Reut Shemesh in ihrer neuen Tanzproduktion weniger gehen. „Atara – for you who has not yet found the one“ ist chassisdischen, also ultraorthodoxen jüdischen Frauen und ihrem Alltag mit seinen strengen Regeln und Ritualen gewidmet. Das Leben dieser Ataras bildet die Israelitin in ihrer Arbeit ab zwischen Verteidigungsrede und stummem Vorwurf. Entstanden in einer Residenz des K 3/Tanzplan Hamburg, wo es im April auf Kampnagel uraufgeführt wurde, gastierte Shemeshs aktuelles Stück beim landesweiten Festival tanz NRW 19 in der Fabrik Heeder in Krefeld. Am 14. und 15. Mai ist es im Tanzhaus NRW in Düsseldorf zu sehen.
Formstrenge Zeremonien aus ihrer Heimat kennt man von Reut Shemesh aus früheren Produktionen. Ihre Verachtung für nationale Festakte, die sie als „ideologisches Theater“ bezeichnet, hat sie sich bereits in „Gola“ von der Seele choreografiert. Und in „Leviah“ zeigt sie – wenn auch nur für zwei Frauen in Uniform – ritualisierte Bewegungen, in denen der Körper gefangen ist. Auch Hella Immler, Tsipora Nir und Florian Patschowsky wirken wie gefangen in ihrer Kleidung: schwarze Röcke, die bis über die Knie reichen, und Oberteile, die Schlüsselbeine und Ellenbogen bedecken müssen. Alle drei tragen flache, schwarze Schuhe und Perücken mit Pagenkopf, wie viele verheiratete chassidische Jüdinnen.
Beinahe trotzig führen die beiden Frauen, Patschowsky kommt später hinzu, die Volkstänze aus. Sie stampfen, schwingen die Arme voller Elan, tippeln auf der Stelle mit winzigen Bewegungen nach vorne. Hella Immler beginnt zu sprechen und man erwartet eine Abrechnung mit dem einengenden jüdischen Glauben. Stattdessen listet sie Vorurteile auf, die man gegen sie und andere ultraorthodoxe Jüdinnen verbreitet. „We’re suppressed and we love it. We are forbidden to sing out loud. We have no access to internet.“ Es folgt ein Streitgespräch zwischen Immler und Patschowsky, bei dem jeweils der eine spricht, dabei eine Hand vor den Mund hält, und der andere die Lippen bewegt. Es ist ein seltsamer Dialog zwischen Anbiederung und Vorwürfen. Solche Szenen wechseln ab mit spannungsvollen Tanzsequenzen zu pulsierendem Sound: schnelle Schritte auf der Stelle und durch den Raum, rhythmisches Klatschen der Hände, Schreiten im Kreis und kleine Hüpfer, mal sittsam, mal explosiv. Reut Shemesh gelingen auch schöne Bilder mit allen drei Tänzern, so eine Pose, bei der Immler wie ein Engel über den beiden andern gehalten wird. Viele Szenen fesseln und verwirren doch.
Eine Stimme aus dem Off wiederholt in einer Schleife die Überzeugungen einer Jüdin, die stolz ist auf Ihre Lebensweise und Kultur. „Poor woman, I have children, you don’t“. Oder: „We got engaged after four meetings.“ Immler öffnet den Mund zum stummen Schrei. Ein starker Moment, der den Zugang zu einer tieferen Ebene endlich öffnet.
Denn anders als in den früheren Stücken weiß man bei „Atara – for you who has not yet found the one“ lange nicht, wo die Choreografin hin will, wen sie anklagt. Nur wer ihren sehr persönlichen Flyer gelesen hat, weiß, dass es sich wieder um ein autobiografisches Projekt handelt – und dass Reut Shemesh selbst zwischen zwei Welten zerrissen ist. Denn vor etwa 15 Jahren konvertierten einige ihrer eigenen engsten Familienmitglieder zum orthodoxen Judentum. Eine schwierige Situation, die beispielsweise dazu geführt hat, dass sie ihren Bruder seit 15 Jahren nicht mehr berühren durfte. Denn nach der jüdischen Thora darf ein Mann nur seine Ehefrau berühren. Für ihre aktuelle Arbeit hat Shemesh mit zehn orthodoxen und weltlichen Frauen in Hamburg, Israel und New York City Gespräche geführt und eben diese Zitate Hella Immler und Tsipora Nir in den Mund gelegt.
„Atara“ ist eine kraftvolle Arbeit, choreografisch und tänzerisch überzeugend. Und auch wenn sie es dem Zuschauer nicht leicht macht, zwingt sie doch zu Aufmerksamkeit, um das Gesehene verstehen zu können.
Erst gegen Ende wagt Reut Shemesh einen tieferen Blick in die Seele ihrer Figuren. Aus dem zum stummen Schrei geöffnetem Mund von Hella Immler dringt irgendwann ein schmerzvoller aaaaa-Laut, synchron mit Florian Patschowsky. Immer lauter wird ihr Klagen. Tsipoa Nir vokalisiert dazu ein religiöses Lied mit einer klangvollen, sanften Stimme. Auch sie lässt nun Brüche zu und windet sich, zittert leicht. Schließlich steigen alle drei aus ihren Röcken, nehmen die Perücken ab. Doch nur, um in die Kleidung eines anderen zu wechseln. Ihre Individualität hat die Religion verschluckt.