TANZPROJEKT und TANZKUNST…
DEUTSCHER TANZPREIS 2024
TANZPROJEKTE und TANZKUNST…
… es waren vor allem die Tanzprojekte, die im Mittelpunkt der Gala standen, anlässlich der Preisverleihung an Sasha Waltz, “für ihre künstlerische Arbeit”, Dieter Heitkamp, “für sein Lebenswerk” und “explore dance – Netzwerk Tanz für junges Publikum”, “für herausragende Entwicklungen im Tanz” – die offiziellen Begründungen der Jury haben wir im April bereits HIER vorgestellt.
NEUVERORTUNG…?
… Nach dem fulminanten Auftakt zur Preisverleihung in 2023 mit dem Nachwuchs der Staatlichen Ballettschule Berlin mit BETTER FASTER STRONGER (auch HIERAN sei nochmals erinnert und verwiesen) eröffnete den Abend , wie in den Jahren zuvor die Hauscompagnie, das Essener Aalto Ballett.
Manche(r) war nach dem Intendanten- und Leitungswechsel gespannt auf eine erhoffte Neuverortung und wurde enttäuscht:… Das Ensemble tanzte als “Vorpremiere” einen Ausschnitt aus Johan Ingers CARMEN von 2016, das sicherlich schon vor neun Jahren bei weitem nicht mehr auf der Höhe der Tanzkunst und dem Weltbild unserer Zeit gewesen ist. …
…Kein guter Start, weder für die Preisverleihung noch für die Essener Tanzcompagnie
Grussworte Stadt und Land:
Oberbürgermeister der Stadt Essen, Thomas Kufen, verkündete, wie in den Jahren zuvor, seinen Stolz über die Tanzlandschaft seiner Stadt, das wirklich schöne Aalto-Theater und natürlich, dass es die Stadt Essen ist, die die Gala für “den herausragendsten Preis, den der Tanz in Deutschland zu vergeben hat…” ausrichten darf.
Ina Brandes, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, konnte dieses Jahr nicht persönlich anwesend sein und vermittelte ihre Grussbotschaften digital..
KAUM ZU GLAUBEN…
……Folgt man den Worten der Moderatorin Siham El-Maimouni, Redakteurin und Moderatorin beim Westdeutschen Rundfunk, die seit 2020 durch die Preisverleihung führt, dass Sasha Waltz mit ihrem mehr als dreissigjährigen Schaffen “…unbestritten national und international eine der renommiertesten deutsche Künstlerinnen im Bereich des Tanzes.…” sei, erscheint es kaum glaubhaft, dass Sasha Waltz in so vielen Jahren diesen Deutschen Tanzpreis NICHT erhalten hat.
Das muss man nicht so sehen, aber El-Malmouni ist vor allem eine sehr bekannte Journalistin, deren Worte eigentlich Gewicht haben, weil ihnen eine eigene Expertise und Meinung unterstellt werden darf oder gar muss.
…vielleicht aber rückt ein solcher Widerspruch auch nur die Frage der journalistischen Unabhängigkeit in die Aufmerksamkeit?
Grussworte Claudia Roth:
Der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien blieb es vorbehalten, auch in diesem Jahr ein leidenschaftliches Plädoyer für Frieden und Menschlichkeit zu halten und die Wichtigkeit des Tanzes und der Freien Szene zu betonen…., allein, der Kontext zu gebrochenen Versprechen, die Körpersprache und Stimme vermittelten Zweifel, insbesondere, als sie erneut betonte, wie sehr sie in den anstehenden Haushalts-Nach-Beratungen für den Tanz kämpfen werde. Diese Zweifel müssen wohl auch Sasha Waltz bewogen haben, in ihrer Dankesrede, Taten statt Worte einzufordern.
Familienfeier…
… unter dem verbindenden Motto der drohenden Einsparungen in Kunst und Kultur in den kommenden Jahren, insbesondere betroffen davon die sogenannte “Freie Szene”.
Dass sich auch Sasha Waltz und ihre Guests dazu rechnen lassen (müssen?), zumindest an diesem Tag, wo so doch, unter dieser Prämisse, erstmals alle Preise dieser Tanzpreisausgabe an die “Freie Szene” gehen, wie die Moderatorin betont, als sei dies allein schon ein herausragendes Ereignis, schafft zwar noch keine Qualität, aber eben Zusammengehörigkeit(sgefühl).
Laudatio Helge Lindh:
Zur “family” gehört mittlerweile auch Helge Lindh, Bundestagsabgeordneter aus dem nahen Wuppertal und kultur- und medienpolitischer Sprechers der SPD im Bundestag. Er outet sich in seiner, wie fast immer humorvollen, stets sympathischen Rede, schon mal als “grösster Fan” des Netzwerkes Tanz für Junges Publikum – explore dance – eine Initiative einiger grosser Produktionshäuser im Tanz.
explore dance – EHRUNG FÜR HERAUSRAGENDE ENTWICKLUNGEN IM TANZ…
Die Jury des Deutschen Tanzpreises zeichnet die Arbeit des Netzwerks explore dance in der Kategorie Ehrung für herausragende Entwicklung im Tanz aus. “Seit nicht einmal 6 Jahren entwickelt das Netzwerk explore dance bundes-länderübergreifend Formate, die zeitgenössischen Tanz als Kunst und kulturelle Praxis auf der Bühne und in Vermittlungsprojekten an ein junges Publikum richten. Ihr eigener Auftrag lautet, „die noch immer bestehende Leerstelle im Kultur-angebot für Kinder und Jugendliche in Deutschland zu schließen…“.
FÜR DEN DACHVERBAND TANZ DEUTSCHLAND…
Sabine Gehm und Michael Freundt
Sie machten einmal mehr deutlich an diesem Abend, dass der Tanz in seinen vielfältigen Formen, mehr denn je gebraucht wird und doch beinahe überall durch Förderkürzungen in Stadt, Land und Bund bedroht sei. Veranstaltungen wie die Verleihung des Deutschen Tanzpreises seien daher wichtige Höhepunkte des kulturellen Lebens unserer Gesellschaft, um diese Kunstform und kulturelle Vielfalt des Tanzes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen zu können.
EHRENPREIS FÜR DAS LEBENSWERK
Dieter Heitkamp
Wir möchten hier gerne Helge Musial zitieren, Professor für Tanz, Universität Mozarteum, Salzburg, der als Zeitzeuge aus Künstlerperspektive spricht:
Anfang der 1980er-Jahre suchte ich in Berlin nach Tanz, den es eigentlich kaum gab. Ballett war möglich, das war es weitestgehend, wäre da nicht die frischgegründete Tanzfabrik gewesen. Als ich mich im Frühjahr 1982 auf den Nachhauseweg von einem der Trainings dort machte, rief jemand aus einem Fenster im dritten Stock in den Hof, ob ich Lust hätte, einen Kaffee mit ihm trinken zu gehen. Es war Dieter Heitkamp. Ihm verdanke ich das Kennenlernen der Contact Improvisation. Dieter hatte wie ich eine Sportvergangenheit.
Besonders aber für mich war und ist sein Wirken als zeichnender und bildender Künstler mit einer Faszination für allerhand Objekte, die sich für choreografische Zwecke anboten. Seine Skizzenbücher für seine Arbeiten sind wundervolle Kunstwerke. Nach ersten Improvisationsaufführungen auf dem Gelände der Möckernstraße 68 kam schließlich Dieters Vorschlag für die Produktion eines Duetts samt meinem Saxofon. Das Instrument sollte nicht statisches konzertantes Element bleiben, sondern der Ton mit der Bewegung durch den Raum gehen. Viele Jahre der Zusammenarbeit folgten.
Dieters Erarbeitungsweise von Projekten war in der Tanzlandschaft der frühen 80er-Jahre neu. Viele seiner Werke entstanden in Ko-Autorenschaft, aber auch in den Arbeiten mit ihm als leitender Choreograf waren Ideen von Performer*innen gewünscht. Dadurch wurden die Stücke besonders vielschichtig und für die Performer*innen Spielfelder, in denen ihre Persönlichkeiten und Biografien vorkamen. Die häufig extrem temperamentvolle Reibung in den Proben war anstrengend, aber immer explosiv in der Kreativität. Beispiel: In dem Stück Sieg der Körperfreuden von 1985 über Sexualität und Sport konnten alle Performer*innen Parallelen zur eigenen Sportvergangenheit aufzeigen.
DANKESREDE DIETER HEITKAMP
Nachdem Gerald Siegmund tags zuvor auf PACT Zollverein bereits seine Laudatio gehalten hatte, zitierte er noch einmal aus der Jurybegründung: „…Dieter Heitkamp ist ein Gesamtkunstwerk. Er bewegt sich kraftvoll in verschiedenen Bereichen des künstlerischen Schaffens: als Tänzer, Choreograf, Pädagoge, Regisseur, Mentor, bildender Künstler, Fürsprecher junger Tänzer*innen. 45 Jahre lang war er wunderbar energetisch, prägnant und dynamisch für die Transformation und Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland mit verantwortlich. […]”
Hier die Dankesrede von Dieter Heitkamp.
LAUDATIO NELE HERTLING FÜR SASHA WALTZ:
“…Kennen gelernt habe ich Sasha Waltz in den frühen 1990er-Jahren, nachdem sie vom Künstlerhaus Bethanien in Berlin ein Stipendium als Artist in Residence bekommen hatte. In vielen Gesprächen ist zwischen uns eine bleibende Beziehung entstanden und eine herzliche Freundschaft. Bei meinen ersten Begegnungen mit ihrer choreografischen Arbeit, Travelogue und Allee der Kosmonauten, war ich fasziniert von der Frische, der Direktheit des Erzählens, dem überzeugenden Bewegungsablauf, hochprofessionell in seiner Eigenständigkeit. Doch auch die Situation des freien Tanzes in Berlin war ihr ein Anliegen, gemeinsam mit ihrem Partner Jochen Sandig.
Es war notwendig, neue Räume für den Tanz zu öffnen, ein neues Publikum zu erreichen. Es gab einen regen Austausch zwischen uns zu allen diesen Fragen. Die Eröffnung der Sophiensæle 1996 war ein bedeutender Schritt für die Präsenz der Freien Szene. Und für die Aufführungen von Sasha Waltz & Guests. In bleibender Erinnerung ist mir die Premiere von Körper im Jahr 2000 zur Eröffnung der Schaubühne – eine klare eigene Handschrift mit dem großen Können und eindringlichen Einsatz ihrer Tänzerinnen und. Tänzer. …”
Dankesrede Sasha Waltz:
…sie teilte ihren Ehrenpreis mit ihren Wegbegleiterinnen und -begleitern der letzten 30 Jahre, die, wenn sie nicht bereits auf der Hinterbühne für ihren nachfolgenden Auftritt in IN C sein mussten, zahlreich im Publikum vertreten waren. Hierzu gehört natürlich ihr Partner Jochen Sandig, der maßgeblichen Anteil hat am Erfolg von Sasha Waltz. Gemeinsam gehören sie zu den ganz wenigen Entrepreneuren im Tanz in Deutschland, die immer wieder neue Orte für den Tanz geschaffen haben…
ZU EINER TANZ-GALA…
… gehören erwartungsgemäß tänzerische und choreografische Höhepunkte, die vermitteln können, was der Tanz auf einem bestimmten Niveau im Betrachtenden auszulösen vermag, wenn er Kunst ist, wenn er etwas zu sagen hat. Manchmal finden sich auch brillant getanzte technische Herausforderungen darunter, so wie es sich etwa William Forsythe mit seinem “IN THE MIDDLE, SOMEWHAT ELEVATED” 1987 für Sylvie Guillem und Laurent Hilaire, Ballet de l’Opéra de Paris, erdacht hatte und das Polina Semionova und Marten ten Kortenaar vom Staatsballett Berlin nun in einem finalen Pas de Deux auf die Essener Bühne brachten. Ohne zu glänzen blieb der Forsythe-Ausschnitt dem Abend etwas fremd, ähnlich wie die bereits erwähnte CARMEN-Fassung von Johan Inger, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen. Tröstlich, dass wenigsten ein weiteres namentliches “Zugpferd” Lust auf Mehr machen konnte: Akram Khans Ausschnitt aus CHOTTO DESH für das ganz junge Publikum überzeugte auch ohne die phantasievollen Projektionen, die das Stück zu einer lebendigen Reise werden lassen, auf der Suche nach der “Kleinen Heimat” (chotto desh) und hier ein wunderbares Beispiel für den Tanz für Junges Publikum (explore dance).
“RADICAL CHEERLEADING” von Zufit Simon, wohl zu Ehren von Dieter Heitkamp gedacht, behauptet seine Radikalität auch als Ausschnitt lediglich. Die Arbeit haben wir bereits HIER auf TANZweb ausführlich besprochen und kamen, passend auch zur Aufführung im Rahmen einer Gala und im Hinblick auf seinen Ursprung zu dem Fazit “Im Sport würde man sagen: eine andere Liga”.
Den Abschluss bildete Sasha Waltz mit einem (viel zu langen) Ausschnitt aus ihrem “IN C”…
ZU “IN C”…
schreibt das Programmheft: “… Die Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests begann 2021 einen neuartigen künstlerischen Prozess, aus dem kontinuierlich sowohl digitale wie Live-Formate hervorgehen. Musikalische Grundlage ist Terry Rileys In C (1964), eine in seiner Zeit revolutionäre, offene Komposition, die gemeinhin als erstes Werk der Minimal Music gilt. Basierend auf diesem Meilenstein der Musikgeschichte entwickelte Sasha Waltz gemeinsam mit ihren Tänzer*innen choreografisches Material, das einer ähnlich variablen Struktur folgt und bewusst nicht als fertiges Bühnenstück angelegt ist.”
und auch:
„Es geht darum, allein und gemeinsam Entscheidungen zu treffen, sich miteinander zu vernetzen, zuzuhören, sich gegenseitig zu unterstützen, zusammenzuwachsen, sich Raum zu geben, zu spüren, was gebraucht wird, was man zum Wohle der gesamten Gemeinschaft auf der Bühne tun kann und niemanden zurückzulassen. Viele dieser Ideen bilden die Grundlage der Demokratie und sind das, was in unseren sich ständig verändernden Gesellschaften in diesem Moment benötigt wird“, schreibt Sasha Waltz. Die Compagnie nennt ihre künstlerische Arbeit „eine permanente Suche nach Empathie und Mitmenschlichkeit. Sie stemmt sich gegen jede Form von Diskriminierung, Gewalt und Ideologie und tritt für die demokratischen Werte einer offenen und diversen Gesellschaft ein. Dafür steht im Besonderen auch das Projekt In C, nicht nur ein politisches Stück, sondern tatsächlich ein demokratischer Prozess in Tanz und Musik“.
Geht es Sasha Waltz also vorwiegend darum, ein Stück anzulegen, das in seiner Struktur und Einfachkeit von professionellen und nichtprofessionellen Tänzerinnen und Tänzern einstudiert und ausgeführt werden kann,? Wie einfach müssen solche Strukturen sein, damit der Umgang mit dem Improvisationsmaterial so sicher beherrscht beherrschen werden kann, dass sich diese Improvisationen zu einem stets neuen Ganzen fügen?
Der Rezensent denkt an John Cage, Merce Cunningham, Trisha Brown, Lucinda Childs, um nur einige zu nennen… Nach nur der Hälfte des 40 Minuten Gala-Ausschnitts von “IN C” gab es nichts mehr Neues, Überraschendes zu entdecken..
…man sieht sich diesmal erst in 2026, wohl in gleicher Runde wieder
credits
Editing und Gestaltung: DANSEmedia | berlin
Bildnachweise:
Seite 8: Video-Titel ©Christian Lartiliot aus “Sasha Waltz ein Portrait
alle anderen ©Klaus Dilger
Videomitschnitte Klaus Dilger
im Rahmen der Gala zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises
im Aalto Theater Essen am 12.10.2024
PREISVERLEIHUNG FAND AM 12.OKTOBER IN ESSEN | AALTO THEATER STATT