OFF Festival schrit_tmacher justDANCE!

Breit, breiter, Mensch

Wim Vandekeybus und seine Kompanie Ultima Vez gehen in „TRACES“ der Beziehung zwischen Mensch, Tier und Natur nach.

Von Natalie Broschat

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Noch ganz knapp bevor die Welt in den ersten Lockdown ging, konnte der belgische Künstler Wim Vandekeybus Anfang Dezember 2019 die Premiere von „TRACES“ bei December Dance in Brügge feiern. Bis Februar konnten Ultima Vez damit touren, dann war Schluss. Vereinzelte Aufführungen waren ab Ende 2020 wieder in Griechenland, Spanien und Luxemburg möglich; das Festival schrit_tmacher just dance! markiert nun den Auftakt der Festival- und Toursaison 2021.

Und welch ein Glück dieses wundervolle Tanzstück nun endlich sehen zu können, in dem Wim Vandekeybus zusammen mit zehn Tänzern und Tänzerinnen – deren Tanzlust und Energie bis zum letzten Sitz im Saal hinein zu spüren ist – dem Menschlichen, Tierischen und Natürlichen nachspürt. Vor der dunklen Bühnenrückwand, die den imposanten und dichten rumänischen Urwald darstellen soll, befindet sich jedoch auch eine schemenhaft zu erkennende Straße, mit weißer Farbe auf dem schwarzen Bühnenboden markiert. Maureen Bator stolpert darauf umher, erschrickt sich immer wieder vor Geräuschen und Unsichtbarem, schreit in den Wald, fällt in Ohnmacht, wird von einem Hausmeister an den Wegesrand bugsiert und mit einem Plastikbeutel bedeckt. Der sich anpirschende Bär, von denen es in den Karpaten viele gibt, kann sie natürlich darunter erschnüffeln und rollt sie quer über die Bühne. Es folgt Maria Kolegova als elegante Waldelfe, die den Bären sanft zurück in den Wald führt. Eine erste komisch-absurde Szene, die nur den Anfang von über 90 Minuten geballter Energie markiert.

TRACES_Wim VandeKeybus©TANZweb.org_Klaus Dilger

TRACES_Wim VandeKeybus©TANZweb.org_Klaus Dilger

Und dabei steht freilich das Merkmal des choreografischen Ansatzes von Wim Vandekeybus im Vordergrund: das Impulsiv-Instinktive, das nicht besser zur Frage nach dem Menschlich-Tierischen passen kann als in „TRACES“. In enger Zusammenarbeit mit den Tanzenden ist ein wildes und individuelles Bewegungspotpourri darüber entstanden, wie sich der Mensch in Gruppen, gegenüber Neuen, in unbekannten Situationen, bei Angst oder im Streit verhält. Beispielsweise, wenn alle -Alexandros Anastasiadis, Borna Babić, Maureen Bator, Davide Belotti, Pieter Desmet, Maria Kolegova, Kit King, Anna Karenina Lambrechts, Magdalena Oettl und Mufutau Yusuf – ihre weiß angemalten Arme in die Höhe strecken, die Finger spreizen und sich sodann mit diesen majestätischen Geweihen umkreisen, gegenseitig messen und angreifen. Das ist von so schöner und pulsierender Kraft, dass diese Szene (und alle weiteren) ewig hätte(n) andauern können.

Doch sie klopfen die Farbe beiseite, auf den Bühnenboden und hinterlassen somit wieder Spuren. Im weiteren Verlauf flirten diese tierisch-menschlichen Wesen miteinander, sprechen Unverständliches oder malträtieren Teddybären. Sie bilden Rudel und bauen Unterschlüpfe aus Decken, Tonnen, Bettteilen und großen und kleinen Autoreifen, die zuhauf quer über die Bühne gejagt werden. Überhaupt ist der Reifen, das rollende Rad als solches ein besonderes Symbol: für eine Wahnsinnserfindung der Menschheit und als unabdingbares Bauteil von Fahrzeugen, die nicht nur transportieren, sondern auch zerpflügen und Landschaften zerquetschen.

TRACES_Wim VandeKeybus©TANZweb.org_Klaus Dilger

TRACES_Wim VandeKeybus©TANZweb.org_Klaus Dilger

„TRACES“ bildet keineswegs eine Evolutionsgeschichte der Menschheit ab, sondern fokussiert sich auf die besonderen zwischenmenschlichen Ereignisse. Besonders schöne wie auch besonders schreckliche. Wenn beispielsweise einem Mitmenschen bei Rückenschmerzen geholfen wird, oder eben Einzelne ausgeschlossen werden. Anführer gibt es und wird es wohl immer gehen, die Gruppe zusammenhaltend, doch auch dominierend. Borna Babic übernimmt diesen Part und füllt ihn mit seinem ganz eigenen Humor. Er schnippt die anderen umher, ob beim Putzen des Bühnenbodens, oder brabbelt sie in autoritärem Ton von A nach B.

Das Stück zeigt vor allem auch, wie sich der Mensch die Natur zu eigen macht, ihr seine Lebensweisen auferlegt, ehr- und achtlos agiert und sie somit zerstört. Wortwörtlich sogar am Ende dieser dramaturgisch sinnvoll aufgebauten Szenenfolge, die den Mix aus Höhen und Tiefen, Ruhe und Dynamik perfekt abzuwechseln weiß, wenn nämlich die rumänische Waldlandschaft verschwindet und ein riesiger Baum sichtbar wird, mit dem natürlich das absolut Offensichtliche geschieht. Der Mensch kann eben nicht anders als sich überall breitzumachen.

Wim Vandekeybus konnte im Coronajahr 2020 mit dem gesamten Londoner Tanzensemble Rambert das Tanzstück „Draw from Within“ erarbeiten, das die Pandemie als Anlass am. Es wurde live gestreamt und mit und für die Kamera konzipiert. „TRACES“ wiederum ist ein unbedingtes Liveerlebnis zu kraftvoller Musik von Trixie Whitley, Shahzad Ismaily, Ben Perowsky und Daniel Mintseris, das dem Choreografen am Herzen zu liegen scheint; er sagt selbst, die Welt sei viel zu klein für uns raumgreifende Menschen. Er sitzt bei der Aufführung beim schrit_tmacher im RABOzaal des Theater Heerlen und freut sich über seine beeindruckende Kompanie. Darüber, wie sie über die Bühne jagen und sich in ihrem kreativen Schaffensraum bewegen und dort zu Recht unglaublich breit machen.

TRACES_Wim VandeKeybus©TANZweb.org_Klaus Dilger

TRACES_Wim VandeKeybus©TANZweb.org_Klaus Dilger