Vielumjubelte schrit_tmacher-Eröffnung in Heerlen

VERTIGO aus Israel eröffnet mit „WHITE NOISE“das schrit_tmacher Fesival

Kein Entkommen

Nachtkritik von Laura Brechmann

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Die energiegeladene Choreografie von Noa Wertheim lebt von der Spannung zwischen Überforderung und Sehnsucht, die die dichte Komposition von Ran Bagno, live interpretiert vom Revolution Orchestra, in „White noise“ kreiert. Die Musiker und Musikerinnen werden in dieser 2018 entstanden Inszenierung überraschend spielerisch mit in den Tanz des Ensembles einbezogen. Dadurch wird ein gegenseitiges Bezugnehmen möglich, das dafür sorgt, dass das 25. schritt_macher-Festival im Theater Heerlen mit einer rhythmisch dichten Symphonie aus Körper, Musik und Sounds eröffnet wird.

VERTIGO-White-Noise©TANZweb.org_Klaus-Dilger

VERTIGO-White-Noise©TANZweb.org_Klaus-Dilger

In keinem Moment steht einer still. Die Schultern zucken unablässig; die Oberkörper zittern; Hände schnellen hoch zum Kopf, krallen sich fest, als versuchten sie die klirrenden, ratschenden Tunes, die die Komposition von „White Noise“ penetrant durchsetzen, einzudämmen. Die Tänzer und Tänzerinnen des Ensembles der israelischen Vertigo Dance Compagnie geben sich der Überforderung hin. Sie stressen sich, wechseln immer wieder die Richtung, laufen rückwärts im Kreis. Umgeben vom zunehmenden Lärm der modernen Welt finden sie weder zu Anderen noch zu sich. Erfahrungen, Begegnungen, Geräusche prasseln unablässig auf sie ein und lassen mit der Zeit alles beliebig und jeden Partner austauschbar erscheinen. Die Tänzer und Tänzerinnen suchen die ersehnte Ruhe im Gegenüber, in dem sie sich immer wieder einander zuwenden. Wertheim’s Choreografie berührt in der Körpersprache der Compagnie mehrfach den schmalen Grad zwischen sehnsuchtsvollen Verlangen, laszivem Reizen und bis zur Gewalt bereiten Leidenschaft. Wer wen zu was verführt bleibt wohl beabsichtigt unklar, in dem das Ensemble sich immer wieder wild durchmischt. Die beinahe existentielle Sehnsucht nach Nähe; nach einem Fundament, das einen hält und das unablässige Piepen im Kopf zum Schweigen bringt, aber auch die Ausweglosigkeit jedes eingeschlagenen Lebensweges wird so beinahe überdeutlich ausgedrückt.

White Noise_INDIGO©TANZweb.org_Klaus Dilger

White Noise_VERTIGO©TANZweb.org_Klaus Dilger

Die Choreografie zeichnet sich weniger durch technische Raffinesse als durch eine stark geerdete Bewegungssprache mit vielen akrobatischen Elementen aus. Der hohe akrobatische Anteil macht die Choreografie zwar spannender und komplexer, doch steht sie damit auch teilweise im Kontrast zu dem „White noise“ vermitteln möchte. Es fehlen Momente, in denen jemand ausgeschlossen wird, sich zurückzieht oder sich allein mit sich wiederfindet. Die Tänzer und Tänzerinnen treten nie als Individuen hervor, sondern immer als Teil eines Ensembles; eines gemeinsamen Körpers, der agiert. Durch die akrobatischen Elemente, die eine zuverlässig einstudierte Zusammenarbeit erfordern, ist die Gemeinschaft immer sichtbar. Es wird sich verlassen, in dem mach sich wiederholte Male rückwärtsfallen lässt oder von mehreren in die Luft gewirbelt wird. Doch stürzt man eben nicht ins Ungewisse, in einen unerträglichen Wirbel aus Lärm, sondern starke Arme fangen einen auf und geleiten einen sicher zum Boden. Es herrscht Vertrauen – und das ist sichtbar.

White Noise_INDIGO©TANZweb.org_Klaus Dilger

White Noise_VERTIGO©TANZweb.org_Klaus Dilger

Die Freude an dem in vielerlei Hinsicht gelungenen Abend wird durch die durchschaubare Dramaturgie gedämpft. Weder in der Musik noch im Tanz werden Risiken eingegangen, die dem Thema mehr Tiefe hätten verleihen können. Der Verlauf des Stücks ist vorhersehbar. Nach zahlreichen energetischen und angespannten Ensemble-Parts fallen die Tänzer und Tänzerinnen am Ende in sich zusammen. Ihr Tanz, der nun von Floor Work-Flows dominiert wird, erinnert an diese Momente, an denen vor Erschöpfung sogar das Aufstehen schwerfällt. Die ersehnte innere Ruhe bleibt aus und mit gesenktem Kopf schleicht das Ensemble zurück ins Halbdunkel. Der Lärm unserer Umgebung, so die resignierende Botschaft des Abends, hallt ununterbrochen in uns wider. So sehr wir uns auch bemühen, können wir ihn nicht zum Verstummen bringen.

VERTIGO-White-Noise©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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