Schrittmacher Festival: „Autobiography“ von der Company Wayne McGregor im Theater Heerlen

Das Genom eines Ästheten

Kritik von Nicole Strecker

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Der routinierte Stückemacher weiß: Anfang und vor allem Ende müssen grandios sein. Wenn die Choreografie dann zwischendurch mal ‚wegsuppt‘ – egal. Hauptsache der Schluss Ende lupft die Zuschauer wieder von den Sitzen. Anfang und Ende – sie sind die einzigen von insgesamt 23 Sequenzen, die in Wayne McGregors „Autobiography“ festgelegt sind, und natürlich sind sie die Höhepunkte der Choreografie, schließlich weiß der 1970 geborene Brite seit rund 27 Jahren wie Tanzarbeit geht. 1993 gründete er seine eigene Kompanie Random Dance, die er vor ein paar Jahren in „Company Wayne McGregor“ umbenannte. Ein wohl strategischer Schachzug, denn seit er 2006 Hauschoreograf für das Royal Ballet wurde, dazu Gastverpflichtungen an Großhäusern hat wie der Pariser Oper, dem Bolshoi oder dem New York City Ballet – spätestens seit diesem Karrieresprung zählt der Name „Wayne McGregor“ zu den Top-Labeln der zeitgenössischen Tanzszene.

McGregor_AUTOBIOGRAPHY©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Die Naturwissenschaften als Inspiration fürs Ballett-Mastermind

Und tatsächlich ist McGregor ja auch das Mastermind für ein Ballett im digitalen Zeitalter. Ohne sich vom Idiom der Danse d’école wirklich zu lösen, ließ er sich von Themen aus der Robotik, Neurobiologie und den Humanwissenschaften inspirieren und erfand den neuen Ballettmenschen gewissermaßen als „Androiden“ mit einer einzigartigen, wiedererkennbaren Bewegungssprache: Hochgezüchtete Körper mit gummiweichen Gelenken. Die Wirbelsäulen ins Hohlkreuz gedrückt, die Schultern und Hüften nachgiebig wie beim erotischen Voguing. Arme und Beine zwirbeln, tupfen, staksen elegant und scheinen spinnenhaft verlängert. Manchmal auf Spitzenschuhen, immer aber mit klassisch gestreckten Füßen und präzisen Linien. Tänzer als feinnervige, hochartifizielle Ballett-Humanoide. Spektakulär anzusehen. Allerdings braucht selbst eine so geniale Stilistik wie die von Wayne McGregor über die Länge eines Abends eine „thematische Erdung“, ein paar Gedanken, die durchs Hirn cruisen, während man schaut und staunt.

McGregor_AUTOBIOGRAPHY©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Die DNA des Choreografen

Eine „Autobiography“ könnte da ein schöner Ansatz sein. So der Titel des zweiten Stücks nach „F.A.R.“, mit dem die Company Wayne McGregor beim Festival Schrittmacher in Heerlen gastierte. Ein Tanz über die Geschichte, wie man Wayne wird? Von wegen. Was McGregor hier treibt, müsste man als arglistigen Etikettenschwindel ahnden. Nichts, aber auch gar nichts erfährt der neugierige Zuschauer an diesem Abend von McGregors Autobiografie. Stattdessen erläutert das Programmheft das hochkomplizierte Konzept des Abends:

Wayne McGregor, der sich schon öfter als Forschungsobjekt hergegeben hat, der von der Wissenschaft schon sein Hirn vermessen und sein Herz scannen ließ – McGregor also ließ diesmal sein Genom entschlüsseln. Aus der Erbgut-Einsicht sei dann „Autobiography“ entstanden: 23 Tanzsequenzen in Analogie zu den 23 Chromosomen des Menschen. Die Reihenfolge der Szenen wird an jedem Abend von einem Algorithmus neu berechnet. Nur Anfang und Schluss sind fixiert – denn siehe oben: der schlaue Meisterchoreograf weiß, warum. Tatsächlich sind die beiden Szenen die choreografisch gelungensten des Abends.

McGregor_AUTOBIOGRAPHY©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Zwischen Rave und Meditation

Kapitel eins: Ein einsamer Solist, versunken in eine bezaubernde Tanzmeditation. Ein empfindsamer Körper, den die Wirrnisse des Lebens schauern, die Vielfalt der Gefühle und widersprüchlichen Daseinsmodi. Kontrolle und Chaos, Freiheit und Zwang, Glück und Schmerz. Dazu esoterisch tröpfelnde, raschelnde Windspiele und Gefäßrasseln, in die sich aggressiv-spitze Töne mischen (Musik: JLin). Ein Menschenleben kondensiert in ein paar Minuten Tanz. Doch von dieser Konzentration bleibt in den folgenden 21 Kapiteln des Abends wenig.

Die Tänzer rotten sich zu einem Rave zusammen. Zwei Tänzer gleiten als superharmonisches Traumpaar über die Bühne. In der nächsten Sequenz toppen sich alle gegenseitig mit ballettös verdelten Urban-Dance-Moves. Alles cool, chillig, sexy. Über der Bühne hängen Metallprismen in der Form von geschliffenen Diamanten (Setdesign: Ben Cullen Williams). Deren Spitzen sausen auch schon mal bedrohlich auf die Tänzer herunter, als wollten sie sich in ihr Fleisch bohren. Auch das Laserlicht schneidet scharf in den Raum, als gelte es die Körper in hauchdünne Scheiben zu zerteilen. Verweise auf das brutale Instrumentarium der Forschung, die wissen will, was den Menschen im Innersten zusammenhält? Am Ende ist es dieses Licht, das einen transzendenten Raum aufmacht, den Menschen in einer  Schlussszene zur göttlich-anbetungswürdigen Kreatur verklärt – soviel finaler Enthusiasmus muss sein.

McGregor_AUTOBIOGRAPHY©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Tanz der KI: schmerz- und schmutzfreies Design

Die Szenen sind mit Begriffen wie „Nurture“, „Nature“, „Sleep“ oder Instinct“ überschrieben, was allerdings eher Verwirrung stiftet als bei der Interpretation des Tanzes zu helfen. Denn wirkliche Themen und Motive lassen sich hinter den DNA-inspirierten Szenen nicht herausmendeln. Vielmehr triumphiert immerzu die Brillanz der McGregor-Form – man hat es eben mit dem Genom eines Ästheten zu tun. Im besten Fall lässt sich daraus das Porträt einer Generation ableiten: Die Kinder der Wohlstandsgesellschaften der vergangenen Jahrzehnte. Hedonistische Lifestyle-Experten und Clubgänger, narzisstisch und stilsicher. Aber wenn man ehrlich ist, ist auch diese Deutung ziemlich konstruiert. So gibt man es bald auf, den mysteriösen Code dieser „Autobiography“ knacken zu wollen und bestaunt einfach nur die so famosen wie attraktiven Tänzer.

Man möchte Wayne McGregor moralisch kommen: Wer so lässig Unmengen an Bewegungsmaterial generiert, könnte schon ein bisschen mehr Ehrgeiz entwickeln bei der Welthaltigkeit seiner Kunst. Andererseits: Ballett für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz – es muss wohl perfektes Kalkül und schmerz-schmutzfreies Design sein.

McGregor_AUTOBIOGRAPHY©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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