Schrit_tmacher Festival just dance in Heerlen

Document, Timeline, Balera

von Ivgi&Greben, Ella Rothschild, Andrea Costanzo Martini – Balletto Teatro di Torino

Nachtkritik von Falk Schreiber

Was an Zombies am meisten beunruhigt, sind diese langsamen, kaum vorhersehbaren Bewegungen: die schlenkernden Arme, die schlurfenden Beine, die unkontrolliert zuckenden Glieder. Schlenkern, Schlurfen, Zucken, das ist das Einstiegsbild von „Document“, dem Stück, das Uri Ivgi und Johan Greben für das Balletto Teatro di Torino choreografiert haben und das das Turiner Gastspiel beim schrit_tmacher-Festival am Theater Heerlen eröffnete: eine Gruppe Zombies wankt im harten Gegenlicht, und Tom Parkinsons dunkle Drones schaffen dazu eine Soundästhetik, die ebenfalls nichts Gutes erahnen lässt. Lisa Mariani schert kurz aus dem zuckenden Kollektiv aus, versucht ein, zwei individuelle Tanzschritte, dann ist sie wieder im Takt. Ihre Position hat sich geändert, ihre Haltung nicht: The Walking Dead. Das geht nicht gut aus.

DOCUMENT Balletto di Torino_©TANZweb.org

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Ivgi und Greben sind künstlerisch geprägt vom zeitgenössischen israelischen Tanz, von weit ausholenden, expressiven Bewegungen an der Grenze zu Sport und Sensation, ein Tanz, der meist wenig subtil aber wirkungsvoll das Publikum überrollt– und der Reiz von „Document“ liegt nicht zuletzt in der Spannung, die dadurch entsteht, dass diese expressiven Bewegungen zwar im Stück angelegt sind, zunächst aber nicht ausgeführt werden. Vieles in der Ivgi/Greben-Choreografie passiert unterschwellig, deutet eine Bedrohung an, ohne sie klar werden zu lassen. Erst nach einiger Zeit schält sich aus Parkinsons Komposition eine echte Melodie, übernehmen brachiale Beats und geben so dem fünfköpfigen Ensemble Gelegenheit, aus dem minimalistischen Konzept auszubrechen, immer noch kontrolliert aber mit zunehmender Wut.

DOCUMENT Balletto di Torino_©TANZweb.org

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Was „Document“ freilich eindeutig positioniert. Eine Welt wird hier ertanzt, die wenig Hoffnung bietet: Mal stoßen die Leiber mit aggressiver Wucht aufeinander, mal werden zaghafte Annäherungen zum Kampf, mal entpuppt sich das Bühnentrapez zum Catwalk des Todes. Ivgi und Greben haben hier eine Schreckensvision entwickelt, die schließlich nur noch schmerzverzerrte Gesichter und stumme Schreie übrig lässt. Selbst das Schlussbild bietet wenig Hoffnung: Zwar performen Flavio Ferruzzi und Emanuele Piras einen kurzen, ungewohnten Moment der Zärtlichkeit, und selbst wenn die Befürchtung, dass der gleich wieder in Gewalt umschlagen dürfte, sich nicht erfüllt, so ist klar, dass es hier gerade mal um die Zärtlichkeit zweier Versehrter geht. Zwei Versehrte, umringt von Leichen.

Balletto di Torino_©TANZweb.org

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Flankiert wird „Document“ von zwei Nachwuchsarbeiten, getanzt ebenfalls vom Turiner Ensemble. Ella Rothschilds „Timeline“ nimmt die von „Document“ vorgegebene Spannung zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Minimalismus und großer Form auf, kommt aber deutlich intimer und ruhiger daher als die gewaltästhetische Choreografie von Ivgi und Greben. Zumal Rothschild am Ende, im Sturz in eine seltsam unpassende und vielleicht gerade deswegen gelungene Pietà-Ästhetik, plötzlich eine unerwartete ironische Wendung versteckt.

Andrea Costanzo Martinis „Balera“ wendet solch unterschwellige Ironie zum eindeutigen Witz. Auch hier gibt es ein minimalistisches Bewegungsrepertoire, das freilich erst nach einer expressiven Exposition zum Zuge kommt; eine hübsche Variation der ersten beiden Stücke, die sich konsequent vom Wenigen zum Overkill steigerten. Freilich ist das Spiel mit Groteske und derbem Humor auch eine ästhetische Challenge, der man sich erst einmal stellen muss, gerade weil der krachlederne Witz von „Balera“ ebenfalls mit Gewalt unterfüttert ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Ensemble etwa  zur Hälfte des Stücks ähnlich beunruhigend die Arme schlenkern lässt wie die Zombies vom Beginn des Abends, und es ist ein hübsch böser Kommentar auf die Konventionen des Tanzes, wie die Zombifizierung hier aufgehalten wird: mittels gebellter Choreografenbefehle, denen sich das Ballettensemble natürlich zu fügen hat. Die (militärisch durchexerzierte) Kunst wird so zum Ausweg aus der ewig gleichen, minimalistischen Bewegung – das ist immerhin eine Utopie, auch wenn sie im konkreten Fall von „Balera“ ziemlich unangenehm und autoritär daherkommt, als synchrones Befolgen von Tanzkonventionen. Dass zum Schluss Michelle Gurevichs „Russian Romance“ läuft, ist ein Beispiel für die Tendenz zum Zuviel, das dem Abend immer wieder unterläuft, aber immerhin ist dieses Zuviel vor allem ein Zuviel vom grundsätzlich Richtigen.

Balletto di Torino_©TANZweb.org

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