Figures in Extinction

DIE KUNST ALS SPIEGEL DER WELT

Crystal Pite und Simon McBurnay setzen mit dem NDT und „FIGURES OF EXTINCTION“ Maßstäbe bei schrit_tmacher justdance!

Einmal mehr könnte die Überschrift lauten: „Glanzvolle Eröffnung des Schrit_tmacher Festivals in Heerlen“ –

Aber es wäre viel zu wenig, um diesem Ereignis, eigentlich drei Ereignissen, gerecht zu werden, denn es sind, wie die Künstler in einem Interview gesagt haben, drei Planeten, die sich zu einem eigenen Kosmos aufgereiht haben und so ihre Gravität entwickeln. Untergehende Planeten vielleicht? „Figures in Extinction“? – Auch eine einzige Rezension dazu wäre viel zu komplex, zu unvollständig, zu wenig und schon gar nicht über Nacht als annehmbare Besprechung zu leisten.

„Figures in Extinction ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Kunst als Spiegel der Welt.

Es spiegelt die Herausforderungen und Krisen wider, denen wir uns gegenübersehen. Es legt offen, wovor wir oft zu fliehen versuchen, während es uns gleichzeitig leise Hoffnung gibt, dass ein Wandel noch möglich ist. Die poetische Auseinandersetzung von Pite und McBurney mit dem Aussterben ist daher auch ein Aufruf an die Lebenden, sich mit sich selbst und den Menschen um uns herum (wieder) zu verbinden.“ schreibt Emily Molnar, die künstlerische Leiterin des NDT, zur Begrüssung der Zuschauenden in das kleine Programmheft, das eigentlich die Rückseite eines Fotos von NDT-Hausfotograf Rahi Rezvani ist.  (https://www.rahirezvani.com/ )

Es zeigt die Tänzerinnen und Tänzer aus seitlicher Perspektive, nebeneinander aufgereiht, wie sie, wie betend ihre Handflächen betrachten. Sie alle zusammen bilden eine Kette, eine Wirbelsäule, einen Strang von DNA, wie die Vogelperspektive zeigt, die als Projektion hinter den Tanzenden sichtbar wird, die Rezvani in seiner Fotografie eingefangen hat.

Eine Einladung und Hinweis zugleich, denn wir werden an diesem Abend ständig aufgefordert werden, unseren Blick und unsere Wahrnehmung zu verändern, um auch nur annähernd aufnehmen zu können, was sich vor unseren Augen, in unseren Sinnen und in unseren Gehirnen abspielen wird.

Figures-in-Extinction-1.0-©RAHI-REZVANI

FIGURES IN EXTINCTION ist ein dreiteiliger Abend, entstanden zwischen 2022 und 2025 produziert von NDT, gemeinsam mit Complicité, in Co-Produktion von Les Théâtres de la Ville de Luxembourg, Montpellier Danse und Schrit_tmacher Festival, der in seiner Gesamtheit erst im Februar 2025 in Manchester uraufgeführt wurde.

Crystal Pite hat im ersten Teil mit dem Untertitel „The List“, grandiose Bewegungen und Bilder choreografiert, in denen die Tänzerinnen und Tänzer des NDT, derzeit die wohl mit Abstand beste Contemporary Dance Company der Welt, Portraits einer ganzen Liste von ausgestorbenen Tieren,, die alle mit Nummern versehenen sind, für kurze Sequenzen zum Leben erweckt.

Eine Auflistung, die mit einem beeindruckend physischen Solo eines Tänzers mit zwei übergroßen, gedrehten Hörnern, der den Pyrenäensteinbock darstellt,  beginnt und uns später an Wasserstellen mit Gazellen im Sonnenaufgang führt, zu geschmolzenen und verschwundenen Gletschern, zu Pflanzen und Tieren, denen Crystal Pite lebendige Körper verleiht, weil sie längst nicht mehr sind, und eine Aura, damit uns diese Lebewesen betrachten, uns vermessen und uns in die Augen schauen, damit wir erkennen können, wer wir eigentlich sind.

Archaische Schönheit und eine Karikatur

Pite und McBurney durchbrechen diese archaische Schönheit durch die Karikatur eines Fernseh-Moderators, oder ist er vielleicht doch Präsident einer kleinen oder großen Bananenrepublik, der die Existenz eines Klimawandels leugnet? Die Worte klingen so vertraut wie hohl und falsch.

Ganz anders die Stimme von McBurney’s Tochter Mamie, nach einer wundervoll berührenden Szene in der eine Tänzerin einem Vogel, der ebenfalls auf dieser Liste stand, ihren Körper geliehen hatte,: „Wo ist er hin, ist er für immer weg?“

Manchmal müssen die Tanzenden inne halten in ihren Verkörperungen, zu schnell wird die Beschleunigung der Aufzählung der verschwundenen und ausgelöschten Arten.

Der Tod ist überall und auch das Leben. Dann etwa, wenn Tänzerinnen und Tänzer die Skelett-Teile einer ebenfalls ausgestorbenen Geparden-Art zusammenfügen und es wie eine riesige Puppe gemeinsam bewegen. Beeindruckend mit welcher Empathie und Genauigkeit diese Tänzer dem Gerippe Leben zurück geben, das uns anschaut und dessen winzige Bewegungen des Schweif-Skeletts und bedeutet, mit welch innerer Unruhe es uns beobachtet, ehe sich der Vorhang langsam schliesst.

Wie kann der Mensch…

Wie kann der Mensch, der in der Lage ist, solche Kreationen zu erschaffen, einzeln oder im Kollektiv, voll Empathie und Feingefühl und unfassbarer technischer und künstlerischer Präzision im Tanz, der in der Lage ist, ein Körper und viele Körper zugleich zu sein, menschliche, pflanzliche, tierische oder gar Gletscher und Seen, wie kann dieser Mensch als Spezies, die Lebensbedingungen seines Planeten für alle Bewohner so zerstören? Was treibt ihn zu seinem ausbeuterischer Umgang mit der Natur, bis diese so unwirtlich geworden ist, dass das der Mensch gegen die Natur „kämpfen muss, um zu überleben“?

Diese Frage war wohl in vielen Köpfen des Publikums, als es erschüttert und still wie selten, nach vierzig Minuten und dem grandiosen ersten Teil „The List“ von „Figures in Extinction 1.0“ von Crystal Pite und Simon McBurney, in die Pause entlassen wurde.

figures-in-extinction-1-0-rahi-rezvani-2022

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„Warum bewegen sie sich nicht“…,

…fragt die englische Kinderstimme, als sich der Vorhang zum zweiten Teil wieder hebt: „But then you come to the humans“.

Die Compagnie sitzt bewegungslos an der Bühnenrampe und starrt auf das Publikum. Später werden sie auf ihre Mobilfunk-Telefone starren, deren Bildschirme sie kalt beleuchten, sie werden immer irrwitziger beginnen zu scrollen und zu tippen, auf Bildschirme und die eigenen Schädeldecken, während die gesprochenen Informationen, zu denen die Tänzerinnen und Tänzer in unterschiedlichen Rollen synchron die Lippen bewegen, immer schneller, komplexer und widersprüchlicher werden. Wie eine computergenerierte Matrix rasen die Worte durch Raum und Gehirne.

Es sind Auszüge aus „The Divided Brain and the Making of the Western World“

von Lain McGilchrist, einem der führenden Neurologie-Forscher und Philosophen der letzten Jahre, die über Performer wie Zuschauer niederprasseln:

„…Es gibt einen Verlust an Einzigartigkeit. Das Wie ist im Was aufgegangen. Und das Bedürfnis nach Kontrolle führt in der Gesellschaft zu einer Paranoia, dass wir alles regeln und kontrollieren müssen. Unser tägliches Leben ist immer mehr einem Netz kleiner, komplizierter Regeln unterworfen, die die Oberfläche des Lebens bedecken und die Freiheit ersticken.

Und ich glaube, was noch wichtiger ist, es gibt auch eine Art Spiegeleffekt: Je mehr wir darin gefangen sind, desto mehr untergraben und ironisieren wir Dinge, die uns vielleicht aus der Falle herausgeführt hätten. Wir werden einfach in das zurückgeworfen, was wir über das wissen, was wir wissen.

Es stellte sich heraus, dass Einsteins Denken diese Sache über die Struktur des Gehirns irgendwie vorwegnahm. Er sagte: „Der intuitive Verstand ist eine heilige Gabe und der rationale Verstand ist ein treuer Diener.“… Ein Stakkato an Gedanken, das den Widerstreit zum Sehenwollen ins Unerträgliche steigert…

Und dann, wie aus dem Nichts, lässt Crystal Pite in der Mitte des zweiten Teils, von einer Millisekunde zur anderen, synchron in wundervollen Bewegungen viel zu kurz Johan Sebastian Bachs „Concerto for 2 Violins in D Minor“ vertanzen, so dass es Einen mit offenem Mund in die Lehne des Theatersessels katapultiert, ehe linke und rechte Hirnhälften weiter lange (vielleicht etwas zu lange) und wortreich um die Macht streiten bis sich die Gruppe langsam im Hintergrund der Bühne ins Nichts auflöst und der Vorhang sich langsam schliesst.

Figures-in-Extinction-1.0-©RAHI-REZVANI

Requiem

Der dritte Teil „Requiem“ führt letztlich aus der rasenden Überflutung an Informationen zum Bewusstsein der Vergänglichkeit, der eigenen wie auch der Zeit selbst. Der Tod steht nun deutlich im Mittelpunkt. Es ist kein abstrakter Tod mehr, der ja auch mit dem „Aussterben“ einherging, sondern es ist ein ganz unmittelbarer, persönlicher. Erstmals sprechen die Tänzerinnen und Tänzer mit ihren eigenen Stimmen, sprechen ihre eigenen Namen und die ihrer Vorfahren, Eltern, Liebsten. Immer wieder berühren sie den Boden, wenn sie sprechen, als wollten sie sagen, alles komme von hier und gehe dorthin zurück. Und wir alle sind umgeben von dem was vergangen ist und vergangen sein wird.

Wir verneigen und vor Crystal Pite und Simon McBurney für diese Inszenierung und Choreografie, aber auch allen anderen Beteiligten. Vor Tom Visser, der einmal mehr gezeigt hat, dass er zu den weltbesten Lichtdesignern gehört. Eine Neuentdeckung auf gleichem Niveau Benjamin Grant für das Sounddesign, Michael Levine für die Bühne und Nancy Bryant für die Kostüme und Jochen Lange für das design der Puppen. Und viele weitere grossartige Talente, nicht zuletzt Jay Gower Taylor für die phantastische Licht-Videoanimation, zusammen mit Tom Visser.

Und last but not least für die phänomenalen Tänzerinnen und Tänzer des NDT:

Alexander Andison, Anna Bekirova, Demi Bawon, Jon Bond, Conner Bormann, Pamela Campos, Emmitt Cawley, Isla Clarke, Scott Fowler, Barry Gans, Ricardo Hartley III, Nicole Ishimaru, Chuck Jones, Genevieve O’Keeffe, Omani Ormskirk, Kele Roberson, Luca Tessarini, Theophilus Veselý, Nicole Ward, Sophie Whittome, Rui-Ting Yu, Zenon Zubyk.

Was für ein unglaublich reicher Abend, der es schwer macht zu glauben, dass es in den nun kommenden Wochen ähnlich bereichernde Tanzproduktionen geben könnte, aber das zeichnet ein Festival auch aus, mit solchem Mut einen Maßstab setzen zu können und zu wollen.

Figures-in-Extinction-1.0-©RAHI-REZVANI