schrit_tmacher justDANCE! startet 2.Woche in Heerlen

Einer trage des Anderen Last

Mit gemischten Gefühlen: Rick Takvorian, Künstlerischer Leiter des schrit_tmacher justDANCE! Festivals, begrüßt das Publikum in Heerlen gewohnt launig. Am Ende aber, nach einem 75-minütigen Versuch, das Gefühl von Verlust in Performance zu übersetzen, steht ein kulturpolitischer Appell. Und der kommt ausgerechnet aus dem Land, in dem eine der diesjährigen Kulturhauptstädte liegt. Das ist bitter.

Von Rico Stehfest

Auch im 28. Jahr des Festivals lässt es sich Rick Takvorian auf keinen Fall nehmen, sein Publikum persönlich mit ein paar kurzen Worten zu begrüßen. Sofern er Gelegenheit dazu bekommt. Das klappt eben nicht immer. So konnte er zum Auftakt in der vergangenen Woche nicht mit von der Partie sein. Dafür entschuldigte er sich gestern Abend im Theater Heerlen nicht nur aufrichtig, sondern betonte in gewohnt charmanter Manier, er hoffe zumindest, das Publikum habe seine Abwesenheit bemerkt. Da es ihm in Wirklichkeit aber nie um seine Person geht, betonte er den diversen und multikulturellen Zugang der Siamese Cie. Deren Choreografien von Rosalba Torres Guerrero und Koen Augustijnen, bewegten sich gern und oft in der Tradition der Folklore. Dabei grüben sie, so Takvorian, immer wieder tief in den Boden, um dort nichts Geringeres als Menschlichkeit zu finden.

Mit ihrer Arbeit „Lamenta“ widmen sie sich der griechischen Tradition der Miroloi, für gewöhnlich von Frauen gesungenen Toten- oder Klageliedern. Ausgehend von einem akustischen Set unter der Leitung von Xanthoula Dakovanou suchen acht Performerinnen und Performer nach einer den Möglichkeiten einer räumlich-körperlichen Übersetzung eines solchen Klageaktes. Dem Publikum begegnet damit ein Wechselspiel aus den erwähnten folkloristischen Ansätzen, allerdings ohne diese zu kopieren, und den Ansprüchen künstlerischen Bühnentanzes.

Gleich zu Anfang, wenn die Performer vereinzelt im trüben Nebellicht ihre Silhouetten ohne wechselseitige Inbezugsetzung geräuschlos über die Bühne bewegen, während rätselhaft ratterndes Raunen diese Figuren in leichtes Wanken versetzt, dann darf man sich durchaus an die Bilder- und Formensprache Hofesh Shechters erinnert fühlen. Es darf allerdings als Zufall gelten, dass seine Company vor einem Jahr auf der gleichen Bühne stand. Und tatsächlich verschwindet dieser Vergleich nach wenigen Augenblicken.

ANHANG-DETAILS Koen-Augustijnen-Rosalba-Torres-Guerrero-–-Siamese-Cie-BE-Lamenta©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Koen-Augustijnen-Rosalba-Torres-Guerrero-–-Siamese-Cie-BE-Lamenta©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Mit kraftvoller Bodypercussion gelingt innerhalb weniger Momente ein bei allem inneren Druck entspanntes Miteinander, Augenblicke von Synchronizität, die die gesellschaftliche Funktion der Klage als Reaktion auf Verlust innehat: Es ist ein Zusammenkommen, ein Beisammensein, eine gegenseitige Vergewisserung, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Dieser transzendentale Aspekt leuchtet im Verlauf von „Lamenta“ immer wieder auf. Was aber genau ist es, das es braucht, um diese Art geistiger Vereinigung zu schaffen?

Immer wieder wird die Einzelne sichtbar, wahrgenommen von den Anderen, nicht selten auch gestützt, ein Bild, das wohl besonders nahe liegt im Assoziationsfeld von Trauer und Verlust. Damit schafft die Gemeinschaft Raum für individuellen Schmerz, besonders aber eben für dessen Ausdruck. Gerät jemand in augenscheinlich grenzenlose Raserei, gebietet dem niemand Einhalt. Oder sei es ein Gesang, den jemand ganz allein anstimmt. Entweder, die anderen hören zu oder man stimmt mit ein. Beides ist möglich, beides wird gelebt.

Besonders aufgrund eines gerade nicht artifzierten Bewegungsvokabulars wirken viele Momente geradezu natürlich, sodass sich immer wieder die Frage stellen lässt, an welchen Stellen tatsächliche Traditionen der griechischen Klagekultur eingeflossen sind. Diese Frage stellt sich auch hinsichtlich der Musik. Fast klischeehaft „Griechisches“ bindet sich direkt an überraschende Verfremdungseffekte, sowohl akustisch als auch tänzerisch. Im Individuellen verschmelzen Überliefertes und heutige Ausdrucksformen ganz selbstverständlich miteinander. In den Soli wird lebendig, was im Jetzt geschieht und welche Herausforderungen die Notwendigkeit zur Verarbeitung in sich birgt.

ANHANG-DETAILS Koen-Augustijnen-Rosalba-Torres-Guerrero-–-Siamese-Cie-BE-Lamenta©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Das Publikum in Heerlen geizte nicht mit Standing Ovations, bekam allerdings nach wenigen Minuten einen Wermutstropfen in die Begeisterung gekippt, als die Performerinnen und Performer auf der Bühne ein Transparent enthüllten, das zu Solidarität mit griechischen Künstlern aufrief. Natürlich erläuterten sie den Sinn dahinter: Von den Medien geradezu kaum beachtet, wie eine der Performerinnen meinte, befinden sich bereits seit Dezember letzten Jahres große Teile der Kreativen in Griechenland im Streik. Hintergrund ist das Präsidialdekret 85, mit dem am 17. Dezember 2022 festgestellt wurde, Absolventen von Theaterhochschulen sowie Tanz- und Filmschulen gelten als Arbeitnehmer und verfügten über eine Qualifizierung auf Niveau der Sekundarstufe. Diplome haben damit keine Gültigkeit mehr. Alle sind jetzt im Prinzip Abiturienten. Arbeitsrechte, Besoldung, Rentenansprüche: Zum Fenster raus sind sie. Die Regierung hat jetzt das Sagen. Keine Klage kann da laut genug sein. Und im Zuge dessen ist der Cast für „Lamenta“ zumindest für die Vorstellung in Heerlen von ursprünglich neun auf acht geschrumpft. Was für ein Verlust.

ANHANG-DETAILS Koen-Augustijnen-Rosalba-Torres-Guerrero-–-Siamese-Cie-BE-Lamenta©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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