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Es gibt keine Mütter, die nie Töchter waren

Aber Töchter, die nie Mütter werden. „New Report on Giving Birth“ der Choreographin Wen Hui gastierte im Theater Kerkrade im Rahmen des Schrittmacher-Festivals

Nachtkritik von Melanie Suchy

Wie könnte ein Bühnenstück übers Mutterwerden und -sein enden? Vielleicht gibt es dafür keine Lösung. Diese hier ist mau, aber weise: inszenatorisches Ausläppern. Im Film wäre das wohl ein Fade-out. Und wenn sie nicht gestorben sind. Das Leben geht weiter. Das Lebengeben auch.

Das Anfangen eines solchen biographisch grundierten Stückes ist einfacher. Im „New Report on Giving Birth“ erzählen die vier Protagonistinnen, nach dem langen stillen Betreten und Besetzen der Bühne, vom Schwangersein und Niederkommen (seltsames altes deutsches Wort für giving birth) oder von der Entscheidung gegen das Kindergebären. Paritätisch aufgeteilt auf je zwei der Frauen, Tänzerinnen, jede bekommt das Wort. Jede ist anders, jede hat auch eine andere Herkunft, unterschiedliche Eltern- und Familiengeschichte im Hintergrund. Im Gepäck am Rücken. Oder unter den Füßen, überm Kopf oder „als Schwere im Unterarm“.

Wen Hui, die Choreographin und Regisseurin des Stückes, eine der vier, gibt Luft dafür, ordnet alle mal als Grüppchen, mal zoomt sie auf eine. Das Sprechen, monologisch oder in Dialogen, hat seine Zeit, und das Tanzen hat seine Zeit. Das Tragen und das Hinwerfen, das Ruhen und das Aufregen.

Sie reden englisch, sie reden von sich. Sie erwähnen ihre Kinder, falls vorhanden, und ihre Eltern, Großmütter, Tanten, wenn nötig. Eine Tänzerkollegin kommt vor in einer der Geschichten, eine Gynäkologin, eine Hebamme, ein anonymes „someone“, genderlos. Manchmal reden die vier oder zu zweit in ihren Muttersprachen. Es klingt und sieht so aus, als verstünden sie einander beim disputierenden oder fröhlichen Plappern. Chinesisch, Italienisch, Persisch. Frauensprache.

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Stimmen

„We are family“ ruft das Schild. Die Bücherei, die im Erdgeschoss des Theatergebäudes von Kerkrade wohnt, weist einen Sondertisch mit allerlei Romanen aus. „Voetbal Vaders“, „De schoon moeder“ und so. Das Wir, das Familiesein, das blendet das Doku-Tanzstück aus. Die Männer, die werdenden Väter. So entschied Wen Hui, und das hilft der Klarheit, bei sowieso schon vielen vorgestellten Perspektiven in dem nicht sensationell mitreißenden Stück. Es will aber auch nicht sensationell sein, sondern eben „report“. Wie geht‘s, wie ist es dir ergangen? Sich zusammenzusetzen, zu erzählen, von früher, von heute, von Freuden und Befürchtungen, einander zuzuhören, das ließe sich als leise Botschaft herauslesen.

Jede trägt ihr Bündel: 

Wen Hui macht die Redensart zum Bild. Alessandra Corti, Patscharaporn Krüger-Distakul, Parvin Saljoughi und sie selber tragen je einen weichen Stoffballen mit sich beim Auftreten, auch später. Wie sie ihn halten, auf dem Scheitel, der Schulter, am Rücken, vorm Bauch, ihn sachte berühren, feste klammern, zwischen die Füße baumeln lassen, später auf ihn drauf boxen, ihn freudig um sich herumschleudern, das deutet lauter individuelle Geschichten an von Beziehungen. Zu was oder wem auch immer oder zum eigenen Körper, der beim Mutterwerden einen anderen beherbergt. 

Entfaltet, kommen Tücher zum Vorschein und weiße Bettdecken. Ein Tuch wird Picknickuntersatz für ein Meeting oder zur Insel für Frauen. Decken und Tücher, über eine Drahtleine gehängt, werden Leinwände für Projektionen alter Fotos, die Decken zu Bauchbällen, auf die Porträts geworfen und geknautscht werden (Video: Rémi Crépeau), später zu langen Röcken, mit deren Säumen-Zipfeln die vier heftig wedeln und schlagen wie beim Spanischen Tanz. Von Selbstbewusstsein ist an dieser Stelle die Rede. Ein riesiges Patchwork-Tuch bedeckt einmal fast die ganze Bühne, wird zur Welt in Gelb und Orange, die eine der Tänzerinnen hinten an der Ecke langsam zu sich und auf ihren Schoß zieht. Ein umgekehrter Schwall. Eine sonderbare Geburt?

Vielleicht ein Traum. Parvin Saljoughi berichtet aufgeregt, sie habe geträumt, ihrem Vater von einem Traum berichtet zu haben, in dem sie ein Schwein gebärt oder von ihm geboren wird, das ist alles kaum verständlich, soll es vielleicht sein. Er, „Nomade sein Leben lang“, habe mal wieder nicht zugehört. Sie, die entschieden Kinderlose, kabbelt nun wortreich und schubsend mit Wen Hui, bis diese über ihr steht und plötzlich wie die Mutter der Liegenden erscheint. Als beide mit den Zähnen am Hosenbein der anderen zieht und sich die Leiber verhaken, trifft das wunderbar den Generationenclinch und den inneren. Halten und Freiheitwollen.

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Lass mich, halt‘ mich

Was sie sonst tanzen, ist selten so vielsagend oder zu schnell zum Entziffern. Das Strecken, Schlenkern, Drehen und Füßelüpfen wie auf heißer Herdplatte spricht von Gefühlen und vom eigenen Raum. Mal wirken die barfüßigen Tänzerinnen dabei eckig, schief und bedrängt oder verhindert, mal greifen sie locker aus in alle Richtungen. Machen ihr Ding.

Die elektronische Musik von Matthias Engelke schafft dazu mit ihrem Knistern, Knattern und Flüstern, manchmal schnellen Beats Atmosphären, sie ist eine praktische, nicht immer angenehme Gesellin.

Mein Ding, „my decision“. Selber entscheiden zu können und zu dürfen über das „giving birth“, das ist die lautere Botschaft der Performance, die sie gegen Ende auch ausspricht. Hinzu kommen Projektionen von Frauenrechte-Demos, so klein, auf weißen Bündeln, dass fast nur Getümmel zu erkennen ist. Groß macht der „Report“ also die vier, die hier auftreten. Das Private, das weiß man inzwischen, ist auch politisch. Insofern ist der „Bericht“ gelungen, weil er um seine eben nicht allumfassende Sicht weiß. Er ist keine wissenschaftliche Studie. Die Statements, die er vorbringt, sind vielleicht nicht weniger wert als die Lücken, die man beim Zuschauen und -hören bemerkt. Gute Kunst.

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Die Choreographin

Wen Hui, 1960 im chinesischen Yunnan geboren, Gründerin des Living Dance Studio, das Tanztheater mit Dokumentarfilm kombinierte, strandete 2020 während der Pandemie in Deutschland, wo sie beruflich zu tun hatte und beschloss, erst einmal zu bleiben, wegen der damals extremen Restriktionen in China. Sie lebt jetzt in Frankfurt, wo sie schon unterrichtet und gastiert hatte, etwa mit einem eindrücklichen, aus Recherchen, also Gesprächen entstandenen Stück über die Kulturrevolution in China und wie sie dort verschwiegen wird, „Memory“. 1999 war sie sie mit ihrem „Report on Giving Birth“ international bekannt geworden; die Ein-Kind-Politik, die bis 2016 in China herrschte, traf und trifft und bedrängt bis heute besonders die Frauen. Wen Hui schuf auch einen „Report on Body“ und einen „Report on 37.8“, der 2006 auf die Politik der ersten SARS-Seuche anspielte, und wollte sich nach einem Vierteljahrhundert das Thema Mutterschaft noch einmal vorknöpfen. Als sie mit den Proben begann mit drei Mittänzerinnen aus unterschiedlichen Kulturkreisen – das war ihr Wunsch gewesen, wie sie bei einer Pressekonferenz einige Wochen vor der Premiere im vorigen November in Frankfurt sagte –, da wusste sie nicht, was am Ende herauskommen würde.

Team 

Konzept & Choreografie: Wen Hui, Living Dance Studio / Tanz & Performance: Alessandra Corti, Patscharaporn Distakul, Parvin Saljoughi, Wen Hui / Dramaturgie: Alexandra Hennig / Musik: Matthias Engelke / Video: Rémi Crépeau Lichtdesign: Matthias Rieker / Sound: Willi Bopp / Dramaturgische Beratung und Beratung Recherche: Zhang Zhen / Produktion: Katja Armknecht / Operatives Produktionsmanagement: Nadine Branca / Outside Eye & Beratung: Julia Alsdorf / Distribution: Damien Valette 

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Wen-Hui_Giving-Birth-Report©TANZweb.org_Klaus-Dilger