…und es ward kein Licht mehr

Gehen und Fallen, Aufstehen und Auferstehen

Imre und Marne van Opstals „VODOO WALTZ“ im restlos ausverkauften Parkstad Limburg Theater in Heerlen ist eine schwere Kost zum Beginn der 29ten Ausgabe des Schrit_tmacher Festivals – aber bravourös performed!

von Melanie Suchy

Das diesjährige Schrittmacher-Festival eröffnet mit einem Stück, das Tanz mit Schauspiel verbindet und nicht auf Wohlgefühl angelegt ist. „Voodoo Waltz“ aus Bochum tickt in einem ganz unlieblichen Takt. Denn die Inszenierung von Imre und Marne van Opstal stellt eine durchgeknallte Geschichte dar. Oder nein: wie sich das Erinnern und Antizipieren eines Knalls anfühlen könnte.

Die bejubelte Premiere im Schauspielhaus Bochum ist einen Monat her. Es war die erste Regie-Arbeit des niederländischen Geschwisterpaars van Opstal mit Schauspiel. Beide waren Weltklassetänzer, im Nederlands Dans Theater (NDT) und in der Batsheva Dance Company; inzwischen choreographieren sie im Zweierkollektiv. Ihr für das Hessische Staatsballett geschaffene „I’m afraid I forgot your smile“, ein Sextett mit Chor, wurde 2023 für den FAUST-Preis nominiert. Der damals beteiligte Tänzer Ramon John, hier per Kooperation ausgeliehen von dem Ballett in Wiesbaden/Darmstadt, verkörpert mit weiteren Tänzerinnen und Tänzern, ehemaligen Mitgliedern des NDT, sowie Bochumer Schauspielern den „Voodoo Waltz“. Eine Beschwörung.

VODOO-WALTZ©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Neun Männer und Frauen und Menschen, die sich mal als dies und als jenes darstellen oder so aussehen. Das ist eine der „feinen Linien“, die anfangs benannt wird als „ich habe sie überschritten“. Einst überschritt sogar der damals neue Walzer Grenzen des sogenannten Anstands. Dieses Hinübergehen, auch im Sinne von Verwandeln, „Transformation“, bietet der Schauspieler Pierre Bokma dar in der Eingangsszene: Er ist Orfan, er gebe sich, je nach Jahreszeit, als Mann aus oder als Frau, aber wollte nie eine Operation. Der Nachnamenlose ist der rote Faden der Inszenierung, die im Rotlichtviertel Amsterdams spielt. Mal spricht er, mal schaut er von der Seite zu. Trägt Anzug und Brille, meist aber ein bleichrosa Unterkleidchen, Pumps, und die Perücke baumelt in der Hand. Im Zwischenstadium.

Zuweilen treten noch Wilhelm alias Bibelleserin Wilhelma auf, William Cooper, der auch einen langhaarigen Jesus andeutet, sowie die Anwältin Ivana, die sich für lügende Gesichter interessiert, und Kinga Xtravaganza, Puffmutter, beide von der Schauspielerin Stacyian Jackson verkörpert. Dazu die sechs Tanzwesen, zwischen Mensch und Gespenst. Aber Orfan, Beruf Sexarbeiter/in, bleibt und geht bis zum Ende. Die vermeintliche oder selbsterklärte Waise rächt sich oder entledigt sich ihrer Vergangenheit, wie er es bezeichnet. Bringt jemanden vom Leben zum Tod, über die Grenze. Während per Bibelzitat von Jesu Auferstehung die Rede ist. Väter als Problem. Die Herkunft. Glauben.

VODOO-WALTZ©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Körper und Geist

Englisch und Deutsch. Die Inszenierung mischt locker die Sprachen. Die Zitate aus dem Neuen Testament sagt eine körperlose Siri-Stimme auf, Stellen, die mahnen und versprechen. Eine erzählt von einem Kind mit einem epileptischen Anfall. Jesus heilt es. Was es mit der Epilepsie auf sich hat und was sie in Hirn und Körper auslöst, darum geht es hier auf der Bühne weniger als in dem Text, auf dem das Stück basiert, den zu kennen allerdings dem Verständnis des Geschehens hilft. Erst das herrliche laute Durcheinander einer späten Szene spielt auf die extrem gesteigerten Sinneswahrnehmungen von Anfällen an. Auch die zwei Lichtkreise, die zeitweise wie Sonnen am Bühnenhimmel prangen. Zudem könnte das mit dem Rotlicht einfach eine Metapher sein für Reiz, Reizbar-, Erregbarkeit des Hirns, an dem der Körper steckt.

Poesie kapert Medizin

„Voodoo Waltz. For Epileptics“ der slowenischen Autorin Janja Rakuš, 2014 auf Englisch publiziert, liest sich wie der poetische Versuch, solche schmerzhaften Explosionen in Schach zu halten und sie gleichzeitig zu ehren wie Offenbarungen. Sich grenzenlos auszufasern und sich zu verbinden. Mit Sinn und Verstand und Halluzinationen. Mit jenem Orfan-Monolog beginnend, setzt der vorwärtstappende und -treibende Text Passagen aneinander, zersplitterte Geschichten, blitzkurze Sätze, Wörter, „click, click“, Wiederholungen, Zitate, YouTube-Links, Referenzen zu Korruptionsskandalen in Slowenien und vieles zu Vincent van Gogh, Arthur Rimbaud, Fjodor Dostojewski und Epilepsie-Medikation. Rakuš verfasste ihn nach einer Wanderung auf dem Jakobsweg, und das Gehen, „rechts, links“, und ein „3, 2, 1“ treiben den Wortewalzer an. Ständige Begleiterin ist die Epilepsie, als Diagnose, Erinnerung, Angstauslöserin, als das, was die vier Hauptfiguren verbindet. Rakuš verstrickt so Körper und Geist, die das Christentum unheilvoll trennte.

VODOO-WALTZ©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Ohnmächte

Während auf der sparsam ausgestatteten Bühne zwei unermüdliche Stunden lang diese Figuren reden, meistens von sich, sitzen, liegen, sich schminken, gehen, abtreten, auftauchen, sind die Tänzerinnen und Tänzer still an ihrer Seite oder übernehmen die Bühne oder übernehmen selber Rollen. Etwa die des grobianisch labernden Taxifahrers: Boston Gallacher, im Gesicht noch Lippenstift, mit klischeemännlich geöffneten Knien. Zuweilen tanzen alle neun, Schritt rechts, links, gemeinsam, eine kleine Show. Oder posieren wie für nette Gruppenfotos, spreizen sich.

Unheimlich

Die Opstals degradieren den Tanz nicht zum hübschen Beiwerk oder symbolistischen Herumgeistern. Doch manchmal kippt es fast. Wenn diese Klassetänzerinnen und -tänzer elegant und spitzfüßig allerlei gerade Linien bauen, die Arme rotieren, wenn ein Mann die kleinere Frau dauernd anhebt, stützt, an Hand oder Hüfte zieht, dann ist der Irrwitz weit. Was sie hier so ungebrochen und ungestört performen, steht auch für das Verbinden von Körper und Geist. Oder doch nicht?

„Schönheit des Lebens“ steht im Text. Sexiness strahlt nur Schauspielerin Stacyian Jackson körperwölbend in ihrem furiosen Kinga-Solo aus samt karibischem Kreol-Einschlag in der Rede. Die Tänzerkörper zelebrieren das Feine, Leichte, fast Unfleischliche, wenn sie sich in Duetten umeinander kringeln und ihre Beine in die Luft strecken. Gott und Götter, Göttinnen: Die Menschen auf der Bühne versuchen, das Irdische zu übersteigen, Gipfel zu erklimmen, kommen aber nicht aus sich heraus, da unten in der Ebene, den Niederlanden oder im Viertel mit dem roten Licht.

VODOO-WALTZ©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Dämon

Wie ein Avatar wirkt der Tänzer Ramon John, wenn er nur steht, knapp bekleidet, mit seinen langen Gliedmaßen und den recht breiten knöchernen Schultern. Ein Ideal, ein Unwirklicher, der sich später am Boden faltet, biegt und reckt und sich aus diesem Ebenen-Dasein herauszuwühlen müht. Dem schönen Schein nicht zu trauen scheint. Dieser Blick hinter oder unter das Gewöhnliche macht den „Voodoo Waltz“ aus.

Die vielen oder riesigen Dimensionen, in denen der Text von Rakuš herumwandert und -klettert, dampft die Bühneninszenierung ein, die Tom Visser feinfühlig hell und auch mal grell rot beleuchtet und Amos Ben-Tal mit Gitarren- und Technoklängen grundiert. Das macht das Geschehen begreifbarer, aber auch braver, nimmt ihm etwas die Höhenluft und Verrückung.

Im Anfang war das Wort. Und so endet der Text:

„One day we will touch what we say“.

VODOO-WALTZ©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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