São Paulo Companhia da Dança

beim Schrit_tmacher Festival just dance in Heerlen mit

The Seasons, Firebird, Melhor única dia

von Édouard Lock, Marco Goecke, Henrique Rodovalho 

Nachtkritik von Falk Schreiber

Die Bilder, die Édouard Lock hier abruft, sind nicht originell. Aber sie kriegen einen trotzdem: Wasser, das bei ruckartigen Bewegungen, an den Bühnenrand spritzt, Spiel mit Licht und Schatten, ein Tänzer gibt den Marionettenspieler, eine Tänzerin die Marionette. Kennt man alles. Aber wenn es so klug gesetzt ist, so stimmig, so durchdacht, nicht zuletzt so sicher getanzt wie bei der São Paulo Companhia da Dança, dann schaut man es sich immer wieder gerne an. Was wahrscheinlich schon die größte Schwierigkeit benennt, die man über „Triple Bill“, den brasilianischen Beitrag zum Schrit_tmacher Festival im Theater Heerlen, sagen kann: Der Abend ist ein künstlerischer Gemischtwarenladen, zusammengehalten vom Anspruch, dass man ihn sich gerne anschauen soll.

Lock, einst Gründer der Spitzentanz-Erneuerer La La La Human Steps, erfüllt diesen Anspruch schonmal mustergültig, indem er der Compagnie eine auf zwölf Monate aufgesplittete Choreografie zu den „Vier Jahreszeiten“ (Musik: Gavin Bryars nach Vivaldi) zusammenschraubt, und zwar mit all den Mitteln, für die der heute 65-Jährige bekannt ist: Er dekonstruiert das klassische Bewegungsrepertoire, indem er einzelne Gesten isoliert, er fragmentiert die Tänzerkörper, und zum Abschluss bricht er das Ergebnis ironisch. Das heißt, dass man bei „The Seasons“ zwar ausschließlich makellose Körper bewundert, die wenig innovative Handlungen vollziehen, aber man hat trotzdem nicht das Gefühl, eine rein konservative Gourmetästhetik zu genießen, weil: Das ist ja alles mehrfach um die Ecke gedacht!

São Paulo Companhia de Dança Lock©TANZweb.org_Klaus Dilger

São Paulo Companhia de Dança Lock©TANZweb.org_Klaus Dilger

Bloß wohin dieser Blick um die Ecke führt, das ist nicht so ganz klar. Die Compagnie jedenfalls gibt ihr Bestes, indem sie aufs Reizendste über die Bühne wirbelt, bis man plötzlich fürchtet, es hier womöglich nicht mit fehlerbehafteten Menschen zu tun zu haben, sondern mit perfekt funktionierenden Tanzrobotern. Dass dieses Puppenhafte bei den Tänzerinnen ärger auffällt als bei den Männern, wirft freilich Fragen auf, die zu beantworten schwierig werden dürfte: Was für ein Geschlechterbild steht etwa hinter dem hochkreativen Durcheinanderwerfen der Konvention bei Lock?

Sao Paulo_©TANZweb.org_Klaus Dilger

Sao Paulo_©TANZweb.org_Klaus Dilger

Angesichts dieser Verunsicherung lobt man sich das zweite Stück des Abends, das gar keinen Hehl aus seiner Hingabe ans Konventionelle macht: Marco Goeckes 2010 entstandene Neuauflage von Michel Fokines „Firebird“ zur Musik von Igor Stravinsky. Goecke, bislang Hauschoreograf in Stuttgart und ab Sommer Ballettdirektor in Hannover, arbeitet konsequent an seinem Ruf als phantasievoller Traditionalist, und den „Feuervogel“-Klassiker zeigt er folgerichtig als anrührenden Pas de deux von Ana Paula Camargo und Nielson Souza. Deren Hingabe an die reine, schöne Bewegung allerdings wirkt 109 Jahre nach Michel Fokines Choreografie zum gleichen Stoff seltsam aus der Zeit gefallen. Als ob hier eine Kunst nachgebaut werden sollte, deren eigentlicher Reiz im Gemachten des Nachbaus liegt, weniger in der Kunst selbst, zumal man dieselben Tänzer zuvor bei Édouard Lock ebenjenes Gemachte als postmodernes Formenspiel durchexerzieren sah. Dass „Firebird“ ein wenig unvermittelt in sein Schlussbild stolpert, nimmt man entsprechend ebenfalls als Beweis für eine technische Motivation, die Goecke so wahrscheinlich gar nicht beabsichtigt hatte.

São Paulo Companhia de Dança_Marco Goecke_ „Firebird”©TANZweb.org_Klaus Dilger

São Paulo Companhia de Dança_Marco Goecke_ „Firebird”©TANZweb.org_Klaus Dilger

Sao Paulo_©TANZweb.org_Klaus Dilger

São Paulo Companhia de Dança_Marco Goecke_ „Firebird”©TANZweb.org_Klaus Dilger

Das dritte Stück „Melhor única dia“ von Henrique Rodovalho schließlich steht wohl der eigenen ästhetischen Sprache der São Paulo Companhia da Dança am nächsten: gnadenlos modern, musikalisch wie tänzerisch eindeutig in Lateinamerika verortet, mit klarem Fokus auf Massentauglichkeit. Rodovalho choreografiert überraschende Ensembleszenen, lässt Bewegungen wie Wellen durch die Tänzerkörper gleiten und schafft so einen Tanz, der den Eindruck erweckt, nicht schon von vornherein zu wissen, wo er nach 20 Minuten enden möchte. Zumindest der Einstieg gewinnt so einen organischen Reiz, der dem Stück erlaubt, auch mal mit Images zu operieren, die man negativ als abgegriffen bezeichnen könnte, hier aber freundlich als ikonographisch wertet.

São Paulo Companhia de Dança_Henrique Rodovalho_Melhor Unica Dia©TANZweb.org_Klaus Dilge

São Paulo Companhia de Dança_Henrique Rodovalho_Melhor Unica Dia©TANZweb.org_Klaus Dilge

Wenn Édouard Lock in „The Seasons“ also nicht unproblematisch Tanzroboter zeigt, dann zeigt Rodovalho das Ensemble als vielteilige Maschinerie. Die zwar perfekt funktioniert, aber die Funktionsweise versteht man bis zum Ende nicht genau – „Melhor única dia“ ist ein Stück, das sich ein Geheimnis bewahrt. Und das es deswegen auch aushält, dass die Spannung ziemlich genau zur Hälfte hin abfällt: Dann setzt ein Samba-Rhythmus ein, die Uneindeutigkeit des bisher Gesehenen wird zur mehr oder weniger schalen Lebensfeier, die Choreografie zur billigen Lateinamerika-Pauschale.

Aber: Durchgängig hohes Niveau halten „Triple Bill“-Abende oft nicht. Zu heterogen sind die Stücke meist, mit denen eine Compagnie hier ihre künstlerische Vielseitigkeit unter Beweis stellen will, so etwas lässt sich in der Regel nur um den Preis einer gewissen inhaltlichen Beliebigkeit machen. Das bemerkenswerte an diesem Abend ist freilich, dass diese Heterogenität sich nicht nur im Gesamtprogramm niederschlägt, sondern auch in der einzelnen Choreografie „Mehor única dia“. Was den Gemischtwarenladen aus São Paulo dann auf eine gewisse Weise schon wieder einzigartig macht.

São Paulo Companhia de Dança_Henrique Rodovalho_Melhor Unica Dia©TANZweb.org_Klaus Dilge

São Paulo Companhia de Dança_Henrique Rodovalho_Melhor Unica Dia©TANZweb.org_Klaus Dilge