„The Roots“

von Kader Attou und Accrorap gefeiert in Heerlen

HIER geht es zu unseren Videoimpressionen

Gäbe es einen Publikumspreis beim schrit_tmacher Festival, er ginge vermutlich an den soeben zu Ende gegangenen Abend, zumindest was die Reaktionen des Publikums anbelangt: diese feierten die elf Tänzer (allesamt Männer) und den Choreographen frenetisch.

Kader Attou‘s „the roots“ ist ein lebendiges Zeugnis der Kreativität des Hip Hop „à la française“ – eine Kreativität, der auch heute noch eine Vorreiterrolle in Europa zukommt –  (aber was heisst das?)

44 Jahre ist er nun alt, und er ist eine der wichtigsten Figuren dieses urbanen Tanzes, der aus der Bronx stammt und in den 80er Jahren nach Frankreich importiert wurde, wo er schon sehr viel früher als in anderen Ländern die etablierten Theater erobern konnte. (Ebenso wie der „Nouveau Cirque“, eine Verbindung aus zeitgenössischem Tanz, Zirkus, Performance und Akrobatik)

BlackBlancBeur mit der Choreografin(!) Christine Coudun war 1984 eine der ersten dieser Gruppen, die in Frankreich zusammenfanden und die weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurden. In 1989 gründete dann Kader Attou zusammen mit Eric Mezino, Chaouki Said und Mourad Merzouki ACCRORAP. Merzouki, der seit 1996 eigene erfolgreiche Wege geht,  ist dem Schrit_tmacher Publikum mit seiner Compagnie Käfig bestens bekannt. Sein „Yo Gee Ti“ wurde vor zwei Jahren in Heerlen ebenfalls frenetisch gefeiert.

Kader Attou_Accrorap_The Roots ©Klaus Dilger TANZweb.org

Kader Attou_Accrorap_The Roots ©Klaus Dilger TANZweb.org

Wie sehr sich der Urbane Tanz, insbesondere der HIP HOP, vor allem in Frankreich weiter entwickelt hat und sich zu einem eigenen zeitgenössischen Tanz entwickelt hat, mit einer klar erkennbaren choreographischen Sprache, lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass Kader Attou, der eigentlich in Zirkus und Tanz ausgebildet wurde, als erster „Hip-Hop-Choreograph“ zum Leiter eines  Nationalen Zentrum für Choreographie (CNN) ernannt wurde. Seit 2008 leitet er das CNN von La Rochelle. Kurz danach erhielt sein ehemaliger Wegbegleiter ebenfalls diese Auszeichnung: Mourad Merzouki wurde 2009 zum Leiter des CNN de Créteil und Val-de-Marne ernannt.

Ein poetischer und musikalischer Autorentanz – so lautet der Anspruch Attou’s – „The Roots“ wurde 2013 in La Coursive in La Rochelle uraufgeführt und war ein sofortiger Erfolg und tourte bereits mit mehr als 100 Auftritten durch Frankreich. „Ich habe mir eine poetische Welt erschaffen, ich habe mich hierzu von vielen Dingen inspirieren lassen, darunter auch Buster Keaton und Harold Lloyd“, sagte Attou einmal in einem Interview.

THE ROOTS – und was den Choreographen bei der Kreation beschäftigte

Seit zwanzig Jahren ist mein Tanz geprägt von der Reibung der Ästhetiken des Hip-Hop-, Kathak-und des zeitgenössischen Tanzes. 
Mir geht es in dieser Beziehung darum, Brücken zu bauen, Verbindungen zu schaffen, Dialoge zwischen den Differenzen herzustellen. Diese Forschung veranlasste mich zu versuchen, besser zu verstehen, was aus dem Körper heraus entsteht und was aus der Emotion. Wie kann aus einer Technik, einer mechanischen Bewegung, einem Code, mit Virtuosität, diese Emotion entstehen. Diese Frage liegt „The Roots“ zu Grunde.
„The Roots“ ist in erster Linie ein menschliches Abenteuer, eine Reise. Elf erstklassige Hip-Hop-Tänzer sind die Darsteller und begleiten mich in diesem Abenteuer. Tableau um Tableau, Kapitel um Kapitel verwandelt sich die Aufführung, öffnet sich zu einem Weiteren, führt zu einem Anderen. 
Das Universum ist hier das des Alltags, etwas ganz Gewöhnliches, ein Tisch … Eine Vinyl-Platte knarzt auf einem Plattenspieler, Erinnerung an die Kindheit. Die Musik spielt hier eine wichtige, evokative Rolle, die Masse der Tänzer reagiert, erwidert auf sie. Brahms, Glazunov, vor allem Elektro-Musik, öffnen Türen zu dieser tanzenden Menschheit.
Dieses Stück spricht die Geschichte eines jeden Tänzers an mit seinem Reichtum und seiner Einzigartigkeit. Von ihrem Tanz, der sich im Laufe der Jahre aus etwas ernährt und weiter entwickelt hat, verfolge ich die Wurzeln, um zur Erinnerung des Körpers zu gelangen. „The Roots“ ist die Frucht dieser Suche: Die Nutzung dieses generösen Tanz, um neue Wege zu entdecken.“ Kader Attou

Soweit der Anspruch

Was von alledem hat den Rezensenten dieses Artikels an diesem Abend erreicht?

„The Roots“ entwickelt schöne Bilder – nicht immer, aber es gibt sie – dies ist ein erstes „Quick-Statement – ein erstes Feedback – doch diese Bilder haben (mich) auf Dauer nicht berührt, vielleicht auch, weil doch zu häufig aus dieser „Erzählwelt in Bildern“ heraus auf Situationen zugesteuert wurde, die in eine Art von Battle-Ritualen mündeten, die einen wesentlichen Bestandteil des Hip-Hop, seiner Welt und Gesellschaft verkörpern. Verständlich, macht sie doch in erster Linie die Klammer aus, die Performer und Choreograph verbindet. Darüber erzählen sie – unter anderem – aber Rezensenten und Zuschauer, den empathischen Aussenstehenden, erreichte dabei nicht unbedingt eine Ahnung davon, was diese „Wurzel-Suche“ auch mit einem selbst zu tun haben könnte.  Das mag unter anderem daran liegen, dass die ausserordentlichen physischen und akrobatischen Fähigkeiten der Tänzer nicht unbedingt unsere Spiegelneuronen zum schwingen bringen. Das was Attou sucht, die Wurzel der Emotion aus und in dem tanzenden Körper aufzuspüren und frei zu legen, gelingt daher im Zuschauer nur bedingt. Die Ästhetik seiner (Traum)Bilder erinnert an die eines David Lynch. Das Interieur, was im Französischen nicht nur für das Innere, sondern auch für Möblierung stehen kann, weisst im Bühnenraum deutliche Spuren auf. Das Mobiliar ist schräg im Wortsinn, Sessel und Sofa kennen keine Waagerechte mehr und irgendwann im Stück bekommen auch sie, zusammen mit Tisch, Plattenspieler und Stehlampe ein Eigenleben und beginnen, sich magisch frei im Raum bewegend, zu tanzen. Das Lichtdesign schafft immer wieder schöne Atmosphären. Doch auch hier finden sich Spuren woran das gesamte Stück ein wenig kränkelt: dem Choreographen und seinen gestaltenden Mitkünstlern kommt immer wieder der Fluss abhanden. Die gemalten Spuren auf dem Bühnenboden bleiben letztlich ästhetische Behauptung und werden zur Dekoration, die Lichtwechsel führen zwar häufig zu schönen Bildern, aber sie beleuchten eben immer wieder nur eine Aktion, die sich häufig auch durch den Lichtwechsel ankündigt, genauso wie sich die Tänzer oft „aufstellen“, um zu ihrem nächsten „Einsatz“ zu kommen. Das ist ebenso unnötig wie schade, denn eigentlich ist alles vorhanden.

Was im ersten Augenblick haften geblieben ist, ist die ungeheure physische Leistung der allesamt männlichen Tänzer, elf an der Zahl und wie es scheint, ein jeder Einzelner verkörpert ein Alter-Ego des Choreographen, der überraschender Weise keine weibliche Komponente seines Seins für dieses Stück entdecken mochte.

Kader Attou_Accrorap_The Roots ©Klaus Dilger TANZweb.org

Kader Attou_Accrorap_The Roots ©Klaus Dilger TANZweb.org

Diese furiose Leistung bleibt auch deshalb so stark in Erinnerung und löscht im ersten Rückblick viele der schönen Bilder aus, weil Kader Attou seinem Stück ein finales Battle verpasst, das jedem seiner Protagonisten ausführliche Gelegenheit gibt, seine exzellente Besonderheit zu präsentieren. Diese Geste des Choreographen, der seine Performer aus der Rolle des Alter-Ego in deren Individualität entlässt, stellt gleichzeitig auch eine augenzwinkernde Entfremdung des Stückes dar, als wolle er sagen: „ach bitte nehmt meine nostalgischen Erinnerungen nicht zu ernst, wir sind doch noch mitten im Leben…!“ und das muss gefeiert werden – am besten mit einer krachenden „Battle-Session“.

Glücklicher Weise gelingt Attou ganz zum Schluss noch ein wunderschönes Bild, wenn einer seiner Tänzer, auf nur einen Arm gestützt, ähnlich magisch zu kreisen beginnt wie zuvor das Mobiliar. Ganze fünfzehn Pirouetten zaubert er, plan gedreht und ohne die kleinste Unsicherheit, auf einer Hand auf die Bühne, während seine zehn Tänzerkollegen vor der eindrucksvoll gestalteten Rückwand langsam von der zunehmenden Dunkelheit absorbiert werden. Und hier wird es dann plötzlich wahr, dass Virtuosität, wenn sie so genial und bedeutungsvoll eingesetzt wird, berührende und nachhallende Bilder erzeugen kann, die Geschichten, weit über das Ende hinaus, evozieren können.

Das ohnedies sehr begeisterungsfähige Schrit_tmacher-Publikum liess sich die Aufforderung zum feiern nicht zweimal sagen – es umjubelte die Protagonisten von ACCRORAP und seinen Choreographen Kader Attou minutenlang mit Standing Ovations.