Wayne McGregor mit „FAR“in der Fabrik Stahlbau Strang

Tänzerisch hochklassig eröffnet das schrit_tmacher justDANCE! Festival nun auch in Aachen

Zurück in die Zukunft

Nachtkritik von Laura Brechmann

Der Abend beginnt mit Fackellicht und Giacomelli. Ein Tänzer und eine Tänzerin der hoch geschätzten Compagnie Wayne McGregor tanzen ihr Pas-de-deux vor dem Hintergrund einer noch beleuchteten LED-Wand, dessen kleine Lichter hervorstechen wie Speere in einem anarchischen Kellerverlies. Unter Rückgriff auf Elemente des Bolschoi-Balletts wird zu Beginn noch etwas erzählt. Die Choreografie des britischen Choreografen lässt Annäherung, zögerliche Ablehnung und ein Beziehungsgeflecht erahnen. Wie zwei zum Leben erweckte Statuen des Klassizismus wirken die beiden Tänzer. Ihre muskulösen Körper bewegen sich in Wellen und mit ausbreitenden Schritten raumgreifend über die Bühne des Stahlbau Strangs Aachens. Doch in der Bewegungssprache ist alles leicht entrückt. Es wird schnell klar, dass diese Choreografie aus dem Jahr 2010, das im Silberjubiläumjahr das Schritt_macher-Festival in Aachen eröffnet, keine Huldigung des Tanzes des 18.Jahrhunderts ist. Anstatt den Körper zu verbannen und durch ein Bewegungskorsett zu disziplinieren, wird er in all seinem Fleisch und seiner Muskelkraft in den Fokus gestellt. So schnappen die Fackeln auch schon nach wenigen Minuten zu und die imposanten 32 000 LED-Lämpchen des Bühnenbilds, das nach einem Lichtkonzept von Lucy Carter und Random International entworfen wurde, wandeln das Setting zu einem flimmernden ahistorischen Kosmos aus Ziffern. Die kommenden Szenen folgen einem undurchschaubaren Score und wirken wie ein choreografierter Zeitstrahl, der weit in die Zukunft weist.

FAR-Wayne-McGregor_-schrittmacher-2020©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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In „FAR“, ein Akronym des Textes „Flesh in the Age of Reason” von Roy Porter, widmet sich McGregor inspiriert von Diderots „Enzyklopädie“ dem Wandel des Denkens und dem Körperbewusstsein im Zeitalter der Aufklärung. Einer spannungsgeladenen Epoche, die auf der einen Seite den menschlichen Körper, seine Anatomie und seine biologischen Prozesse in zuvor nie dagewesenem Umfang in Kunst, Wissenschaft und Philosophie erforscht. Auf der anderen Seite sein „Fleisch“ und den Leib mit seinen Trieben und Lüsten aus Gesellschaft, Politik und Kunst verbannt. Die Choreografie bewegt sich im Zwischen und die Dominanz der Körperlichkeit entwickelt einen Sog, der es einen erschwert den Blick von den tanzenden Leibern zu wenden.

FAR-Wayne-McGregor_-schrittmacher-2020©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Die körperliche Heterogenität der Tänzerinnen und Tänzer ist neben seinem Interesse an technologischen Innovationen in den Bereichen KI und Robotik merklich die wichtigste Inspirationsquelle für McGregor. Jede Tänzerin, jeder Tänzer des Ensembles arbeitet mit der je eigenen Kraft, Spannung und Energie um der anspruchsvollen von rasanten Wechseln geprägten Choreografie beizukommen. Das diese nicht einzig der Kreativität McGregors entspringt, sondern, wie in den Credits erwähnt, im künstlerischen Prozess gemeinsam mit dem Ensemble entwickelt wurde, ist deutlich sichtbar.

FAR-Wayne-McGregor_-schrittmacher-2020©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Die Dominanz der individuellen Leiber und die heterogenen Bewegungssprachen, die in „FAR“ zum Dialog geladen werden, lassen uns die Suche nach einem Erzählfaden aufgeben. Es geht um Körper und Technik; um Fortschritt und Ursprung; um unterdrückte Triebe und strenge Bewegungslinien. Es (er)zählt nichts außer pure Körperlichkeit, wenn die Gliedmaßen der Tänzer und Tänzerinnen im Zusammenspiel von Licht und Tempo wie vor einem verwackelten Fotonarrativ verwischen oder sie sich wie Tiere in einer Arena lauernd gegenüberstehen. Die Choreografie ist dicht und komplex. Es wird den Zuschauenden erschwert einen Zugang zu finden. Einzig die musikalische Komposition von Ben Frost, der u. A. reflexive Texte oder das Schauerliche Knacken von Knochen in seine Partitur einarbeitet, bietet die Möglichkeit sich die Zusammenhänge dieses kognitiven Experiments zu erschließen.

FAR-Wayne-McGregor_-schrittmacher-2020©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Mit seinem Team aus Visual Artists, Programmierern und Tänzern hat sich McGregor mit seinem studio einen Experimentierraum geschaffen, das intensiv an Potenzial und Ästhetik multimedialer Inszenierungen forscht. Grenzüberschreitungen der Disziplinen ist das Markenzeichen der Compagnie. Bereits das im Jahr 2010 entstandenen „FAR“ geht so einige Schritte weiter und verbleibt nicht in der Aufklärung. Vielmehr versetzt uns die gesamte Produktion in eine Zeit, die sich stärker mit der Zukunft als mit der Vergangenheit auseinandersetzt. In dem das Denken und die Weltsicht der Aufklärung mit den heutigen Diskursen um KI verbunden wird, gelingt dem Team um McGregor eine erstaunliche Transferleistung. In einem Diskurs, der die Tanz- und Performanceszene seit gut einem Jahrzehnt verstärkt beschäftigt, wird die Frage nach der Bedeutung des menschlichen Körpers im Dialog mit der Technik ganz neu gestellt.

FAR-Wayne-McGregor_-schrittmacher-2020©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Der Einsatz von Bühnen- und Lichttechnik in „FAR“ ist zwar anspruchsvoll und ästhetisch ein Erlebnis, aber das volle Potenzial noch nicht ansatzweise ausgeschöpft. Die neueren Produktionen verzahnen Tanz und Technik bereits auf eine viel raffiniertere Weise. Die visuellen Settings, die nach Algorithmen konzipiert sind, entwickeln nun eine eigene Kreativität und Agency. Die zum Schritt_macher-Festival mitgebrachte Installation, die im SCHUNCK in Heerlen zu erleben ist, gibt vom Fortschritt der technischen Innovationen einen guten Eindruck. Hier reagiert die Lichtinstallation auf die Bewegungen von Besuchern und Tänzern. Der Einsatz von künstlichen Intelligenzen in der Kunst stellt somit nicht nur die Frage nach dem Körper neu, sondern auch was (oder wer) in Zukunft choreografiert und was wir über menschliche Kreativität noch lernen können.

„FAR“ weist bereits in diese Zukunft und denkt den Fortschrittsglauben und Philosophien der Aufklärung mit den heutigen Diskursen zusammen, doch im Einsatz der Möglichkeiten ist die Inszenierung bereits überholt.

FAR-Wayne-McGregor_-schrittmacher-2020©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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