Wer rettet wen? Wovor? Und wie? Mit Tanz?

Das Schrittmacher-Festival 2023 beendete ein Gastspiel des NDT2 mit dem Programm „Climb the sky!“ im Theater Heerlen

von Melanie Suchy

Das bekannte Stück von Crystal Pite in den Dreierabend des NDT2 zu packen, „Ten Duets on a Theme of Rescue“, gab ihm, der im März 2022 Premiere feierte, einen geheimen zweiten Übertitel. „Climb the sky!“ heißt die Zusammenstellung offiziell. Den Himmel zu erklettern wird dann zu einer Rettung. Oder zur Hoffnung auf eine Errettung.

Das Klettern als Streben nach oben wird erkennbar in der letzten Choreographie des Abends, dem von Johan Inger 2002 fürs NDT2 geschaffenen „Out of Breath“ für sechs Tänzerinnen und Tänzer. „Atemlosigkeit“ bezeichnet hier nicht wahnwitzig schnellen oder kraftraubenden Ballettsport, sondern eine Anspannung: vor Angst die Luft anzuhalten oder keine Luft mehr zu bekommen. Doch nicht viele Momente in dem Stück lassen das spüren. Es scheint sich unfreiwillig zu verläppern, etwa wenn Tänzer um das kurvige Rampen-Objekt von Mylla Ek auf der Bühne herumjoggen oder dahinter laufen und wieder auftauchen, erst nur der Kopf, dann der Oberkörper sichtbar, schließlich ein ganzer Mensch.

Das Ding selber mutet wie betongewordenes Versinken an, mit einer Schräge und einer Klippe, aber erinnert auch an Fußgängerzonenaufhübscharchitektur. Es dient als Mauer, wenn Tänzer den Rücken an sie lehnen, mit den Händen dran hauen oder ein Tänzer die Kollegin hebt und waagerecht dran laufen lässt. Einmal steht Demi Bawon einfach nur vor der Steilwand, während andere sich tummeln. Sie scheint etwas zu erwarten, zu befürchten. Auge in Auge mit etwas, das keine Augen hat, vielleicht Schicksal.

Verzweifeln. Hoffen?

Dieses Anhalten, manchmal Verlangsamen oder auch das viele Rückwärtsgehen oder Sich-Abwenden, Rückenzeigen und das Kontrastieren von nervösem Armerotieren und Stillstehen oder –liegen lassen Versuche erahnen, sich dem Lauf der Zeit entgegenzustellen. Etwas, das passieren wird, aufhalten zu wollen. Mit nichts als dem Willen oder dem Gefühl. Tatsächlich weicht die Spitze des Dings aus, als die Frau sie fast mit dem Fuß berührt: rutscht träge ein paar Zentimeter nach hinten.

Ergreifend wird es, als die Frau, Demi Bawon, nichts greifen kann: Sie bebt, wird erschüttert, öffnet die Arme weit, komm, komm, scheint sie zu rufen. Nichts kommt. Leere. Sie ruft noch einmal, die Arme in die Höhe gerichtet, schreit zum Himmel. Jemand hilft ihr, als sie den Hügel erklimmen will. Sie kommt nicht weit. Dann nimmt sie die Steilwand. Am Ende blickt sie – ist sie es? – von oben zurück, nach unten. Ohne Angst jetzt. Gerettet, vielleicht.

Laut Programmheft hatte Inger damals gerade die dramatisch verlaufende Geburt seines Kindes erlebt.

Leben, neues Leben, weiterleben

Die Kanadierin Crystal Pite schuf ihre „Ten Duets on a Theme of Rescue“ 2008 für die US-amerikanische Cedar Lake Dance Company, ein großartiges Ensemble, dem hauptsächlich Choreographien europäischer Künstlerinnen und Künstler verpasst wurden. 2003 gegründet und von einer Milliardärin alimentiert, musste es 2016 den Geist aufgeben, unrettbar. Pites Werk war Teil des letzten Auftrittes der Company. Auch andere Ballette übernahmen inzwischen die „Ten Duets“. Für NDT2 ist es nun wie eine Eintrittstür in die Pite-Welt. Denn sie hat seit 2008 als assoziierte Choreographin des NDT bislang für NDT1 choreographiert.

Diese rasanten Duette vor spärlicher und wechselnder Beleuchtung aus einzelnen zimmerhoch montierten Scheinwerfern sind wie ein Ausriss aus einem Lehrbuch: Was geht zu zweit? Nicht warum, sondern wie: mit den Händen an Hände gefasst, an eine, an beide, ziehen, halten, schieben. Das Gegenüber umwirbeln, alle Glieder überkreuzen, unterwandern. Mit Armen, Beinen, Kopf und wieder Händen den Anderen berühren aus allen Richtungen, anstupsen, drücken, auffangen. Zugreifen oder zart Kontakt aufnehmen. Tragen, in den Armen, auf der Schulter. Kurz lüpfen. Jemandem vom Boden aufheben, unter den Achseln greifen, aufrichten. Sich überrollen lassen.

Mal ist Duett einfach ein synchrones Nebeneinander, ein Verschmelzen im Bewegen. Mal berührt und verschiebt eine Hand das Gegenüber mit einem Luftkissen dazwischen, einem Abstand, der elektrisch geladen scheint. Doch verkommen die „Duets“, mit der erst endlos ziehenden, dann tippelnden, sirrenden Klängen einer Filmmusik von Cliff Martinez, nicht zur Liste, sondern Crystal Pite komponiert genial auch die Übergänge, Ten ways of changing scenes. Ein Duettpartner geht erst raus, der zweite bleibt, wird Teil des nächsten Duetts oder schaut von hinten eine Weile zu. Sie gehen, sie rennen, schieben Scheinwerfer. Sie erstarren wie erfroren. Werden daraus erlöst.

Lösungen

Das Duett im Ballett unter dem Aspekt des Rettens zu betrachten, dabei das altmodische Liebeswerben des Herrn, der die Dame zu stützen, drehen, hochzuheben hat, natürlich hinter sich lassend, ist ein gutes Gedankenspiel. Rettet doch das Zweiertanzen schonmal zwei Leute vor der Einsamkeit.

Der Mittelteil des Abends war eine neue, aber nicht ewigkeitsverdächtige Choreographie von Noé Soulier, der seit 2020 das Centre national de danse contemporaine im französischen Anger leitet. Wer eine Seltsamkeit wie das ständige Ausholen, Treten und Ausbremsen der sportinspirierten Arbeit „Removing“ erwartet hatte, wird überrascht mit ausgesprochen balletthaltigem Vokabular. Doch tritt „About Now“ ähnlich skizzenhaft flach auf der Stelle.

Weil’s um nichts geht. Nur Machen. Zu einer wunderbaren Aufnahme der „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach – warum auch immer – , auf Flügel musiziert von Pierre-Laurent Aimard, zeigen die Tänzerinnen und Tänzer, dass sie auf einem Bein stehen können, das andere Bein vorn, hinten, an der Seite in die Höhe gestreckt oder mal so, mal so gewinkelt. Oder sie rollen, hüpfen, purzeln mit Anlauf. Arabesquen mit tief gebeugtem Standbein. Tief gebeugte Oberkörper, aufgebogene Brustkörbe. Hände patschen auf Knie, Hüften, Oberarme. Oder sie fassen etwas oder spreizen die Finger, legen sie an, knicken sie ab. Wie die Füße, die sich strecken oder aufklappen zum „Flex“ und zum Haken für eine Hand werden. Die Eleganz des klassischen Balletts wird hier genossen. Und dann ein bisschen tiefer gelegt und verdreht.

In Erinnerung bleiben die wiederholt nach hinten gezwirbelten Arme mit ihren Krallenhänden. Das erinnert an ölverschmierte Vögel. Wer rettet die?

Über jeden Zweifel erhaben waren die großartigen Tänzerinnen und Tänzer.

ABOUT-NOW-©Rahi-Rezvani

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