Zum Staubaufwirbeln braucht es Staub
Die französische Compagnie Dyptik aus St. Etienne gastierte mit „Dans l’engranage“ in der Fabrik Stahlbau Strang in Aachen
Besprechung von Melanie Suchy
Nach all dem, was in diesem Stück aus Stückwerken später noch über die Bühne paradierte, sich zusammenschloss und wieder trennte, auftrat und abtrat, auf dem Boden herumwirbelte, sprang und kobolzte, im Kreis tanzte, innerhalb des Kreises tanzte, bleiben vielleicht die Außenseiter, die Herausfallenden und die Vordrängler, Vornseiter, im Gedächtnis. Mit Sicherheit aber die Anfangsszene.
Das Licht erschafft eine Skulptur, langsamer als eine Sanduhr. Ein funzeliges Scheinen von oben, eins am Boden. Man erahnt einen Kopf und erspäht auf einem hell markierten Viereck zwei Schuhe. Dazwischen Schwarz. So allein im dunklen Raum wirkt das Wesen riesig. Allmählich sind Schultern zu sehen, irgendwann ein Gesicht, das einer Frau mit streng zurückgebundenen Haaren, ihr Blazer und dass eine Linie sie zweiteilt. Aha, eine Tischplatte. Die hellen Finger schieben sich auf die Platte, krumm erst wie Krallen, dann flach. Die Stehende hält den Tisch oder sich, sie presst und bewahrt die Reglosigkeit. Fast vibriert sie vor Anstrengung. Aber warum diese mysteriöse Erschaffung aus dem Dunkel? Was hat das mit der Entfaltung als Rednerin zu tun, deren Gesten Grandiosität behaupten?
„Dans l’engrenage“, das 2017 Premiere feierte und seitdem in teilweise variierender Besetzung auch außerhalb von Frankreich tourt, verrätselt sich. Immer wieder baut es Szenen auf oder kleine Geschichten und lässt sie verschwinden. Schaltet ein, schaltet aus. So wirken die sieben Tänzerinnen und Tänzer wie Spielfiguren, und das Spiel ist kalt. Der Tanz auch, obwohl er sehr gekonnt und virtuos abgeliefert wird. Der Gewinn? Tosender Applaus des Publikums am Ende. Den hat die Choreographie mit einem Trick provoziert. Ein Knopfdruck. Geht’s also um Mechanismen und Kontrolle, anhand des Titels, der etwas wie Kettenreaktion meint? So war der Anfang auch bloß ein Machtspiel. Ihr schaut, wir dressieren euch.
Wer führt?
Diese Lichtgöttin im Businessanzug klappert mit spitzen Armen, biegsamem Oberkörper und maskenhaftem Gesicht allerlei Rednergesten ab, zerschnetzelt die Luft um sie herum, ein Messer ohne Worte. Stets kulminiert das im Triumph, mit einer Hand überm Kopf und einer vor dem Körper, die Unterarme halb verdreht, die Finger halb gespreizt, das Kinn gereckt. Sie wiederholt das am Tisch, später im einsamen Lichtspot am Bühnenrand wie eine Aufziehfigur. Auf interessante Weise erinnert dies mit den leicht gebogenen Armen – beide ergeben ein S – auch an Ballett, da blinzelt der Sonnenkönig durch die Geschichte. Und an spanischen Tanz ließe sich denken, das verdrehte Handgelenk. Schließlich: an Charlie Chaplins Großen Diktator beim „Schnitzel“-Reden-Speien. Auch da war’s am Tisch.
Der Diktatorin hier, Alice Sundara, wird ein sechsköpfiges Volk beigesellt, das sich wie Pappfiguren aus den Kulissen schiebt und ruckelt, dann die Hände auf dem Tisch herumwischt, mit den Fingern tackert, sich arme-ausholend ereifert, zurückbiegt, nach vorne krümmt, mit den Zeigefingern sticht, die Plätze rotiert, die Chefin in den Hintergrund diskutiert. Nun tun andere sich ab und zu groß, entern den Tisch, springen drauf, kippen runter oder schlenzen cool über die Kante.
Wer Politikergebaren an einem großen Tisch choreographiert, kommt ohne eine bestimmte andere Referenz nicht aus. Tatsächlich bedienen sich die Choreographen Souhail Marchiche und Mehdi Meghari am „Grünen Tisch“ von Kurt Jooss von 1932, dem berühmtesten Antikriegs-Ballett. Aber ihre Konferenz ist wuseliger, haltloser, und niemand schießt am Ende. Sondern der Tisch wird rausgeschoben, und keine Geschichte beginnt.
Was denn nun
Sondern nur Anfälle von Individualität. Einzelne verhalten sich manchmal anders als die anderen. Das ist eine banale Idee, wird aber choreographisch einigermaßen geschickt verpackt, so dass es kaum wie eine Nummernrevue wirkt. Einzelne steigen aus dem Gruppendrall aus, auf diese oder jene Weise. Bleiben hinterdrein oder plötzlich stehen oder eilen vorneweg oder zwängen sich in eine bestehende Reihe, zeigen in Solos unterschiedliche Tanzstile. Jeder und jede kommt mal dran, aber, nach der starken Intro, dominieren die Herren.
Zwei von ihnen sind renommierte B-Boys, Superkönner im Breakdance, den sie an einigen Stellen auf die Bretter brezeln. Sie drehen sich auf dem Rücken, den Schultern, den Händen oder auf nur einer, verschlingen in der Luft oder auf dem Boden die Beine in unendlichen Variationen umeinander. Ein Tanz, der kleinsten Raum mit Körper, Kraft, Kurven und Schnelligkeit füllt, und nicht in die Weite greift. Im Stück dient er einmal als Versuch, anderen zu imponieren, ein anderes Mal, um Leiden und Taumeln eines Ausgestoßenen auszudrücken, nachdem der Tänzer geschubst wurde. Die Musik dröhnt entsprechend tief; die aufgesetzte Theatralik der Szene verstimmt.
Ebenso das letzte Solo, als ein bislang nie hervorgetretener Tänzer sich vorne aufbaut mit erhobenen Armen. Seine Stille bringt den lebhaften Reigen hinten allmählich zum Halt. Er, im Lichtspot, das Gesicht erhoben, lächelt selig. Bis er nach einer Weile zu zittern beginnt, mit Armen und Kopf, später beben auch die Beine, als dann die Hände sogar wedeln. Das erinnert schlimm an Parkinson oder andere neurologische Muskelkontrollverluste, ganz fehl am Platze. Als er die Extremanspannung löst, wedeln andere auch mal mit den Händen, als hielten sie im Folkloretanz ein Tüchlein.
Tatsächlich muntern die Choreographen ihre Siebenerschar in der zweiten Stückhälfte mit traditionellen Tänzen auf, kleinen und weiten schnellen Schritten aus nahöstlichen Kulturen, im Unisono, als Pulk, als Reihe, als Kreis, die Schuhe tappen rechts, links, überkreuz, die Arme steigen. Andere Stile mischen sich hinein, Biegungen, geht alles, und so richtig Freude scheint nicht aufzukommen. Trotz Mix ist das seltsam glatt, polierte Oberfläche. Die Art, sich Tanztraditionen und -stile zu greifen und nach Gusto zu verwursten, ist einerseits sehr zeitgemäß, allerdings auch nicht neu als Ansatz. Andererseits verhindert es nicht, dass „Dans l’engrenage“ hohl wirkt.