Didier Théron beim „schrit_tmacher-innen“ Festival in Aachen

Puls, Baby!

von Rico Stehfest

Die Oberbürgermeisterin der Stadt Aachen gendert ganz zeitgemäß und Didier Théron schafft den grandiosen Schritt vom „schrit_tmacher“ zum Herzschrittmacher. Und drei „Kegelrobben“, die AC/DC mögen, hat er auch noch mitgebracht. Das Publikum im ausverkauften Stahlbau Strang ist hellauf begeistert und feiert mit Genuss die diesjährige Festival-Ausgabe.

Sie hatte durchaus die Sympathie des Publikums auf ihrer Seite, als die Aachener Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen in ihrem kurzen Grußwort vor Beginn des Gastspiels der französischen Compagnie Didier Théron andeutete, sie würde ihren Dank gegenüber verschiedenen Personen „namentlich etwas abkürzen“. Das zeigte spontaner Zwischenapplaus. Gekommen waren die Zuschauer eben wegen der Kunst. Nur ohne Förderung geht’s der eben nicht so rosig. Also, Ohren auf und durch. Als Keupen allerdings vom „schrit_tmacher*innen-Festival“ sprach, wurde es im großzügig geheizten Stahlbau dann doch deutlich ein paar Grad kühler.

Vierzig Minuten später war diese Anekdote ohnehin nichtig und vergessen. Dann hatten nämlich die ausgezeichneten Tänzerinnen und Tänzer Jee Hyun Hong, Camille Lericolais, Stanislaw Bulder und Artur Grabarczyk allen Ernstes die Chuzpe, mitten im Stück einfach mal so eben leichtfüßig die Bühne zu verlassen. Und der Soundtrack stoppte. Und das Licht ging aus. Unverschämtheit. 

Wie kann man nur so leichtsinnig sein? Und das ausgerechnet bei einem Stück, dessen Titel „Resurrection“ ja nun wirklich gravitätisch mindestens Mater Dolorosa anrufen und auch sonst mit Schmerzen und Leid nicht geizen sollte. Es sei denn, es handelt sich um eine Arbeit von Didier Théron. Es geht eben nichts über einen ausgeklügelten, gänzlich eigenen Blickwinkel. Und der braucht nicht unbedingt großartige Verklausulierung. Der braucht vor allem Dramaturgie. Und die stimmt hier wirklich.

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Auf einer komplett leeren Bühne setzt der Choreograf seine Performer in einen Raum, der an sich keine Eigenschaften hat. Théron schafft diese erst, indem er seine Performer alle nur erdenklichen Konstruktionen, ganz im Sinn des aktiven Konstruierens, durchrechnen lässt. Vor dem Hintergrund einer Projektion, die ein Makro eines verdorrten Strauches sein könnte, dünne, kahle Halme, farblos, basteln die Vier eine räumliche Geometrie, deren anfängliche Reduziertheit im Prinzip in die Irre führt. Die schwarzen, unauffälligen Kostüme locken in die gleiche Richtung: Man stellt sich ein auf Düsternis, Schwere und große, tiefe Gefühle. Für die nötige Dramatik sorgt ein kaum erträgliches Wummern aus den Lautsprechern. Das ist aber nicht nur eine falsche Fährte. Die im Titel erfasste Auferstehung tut hier nämlich gar nicht Not. So tot die Zweige im Hintergrund auch wirken mögen, auf der Bühne pulsiert das Leben. Und das im Wortsinn: Es dauert nicht lange, bis ein gleichmäßiger Herzschlag einsetzt, ein regelmäßiges Pulsieren aus den Boxen, das die Zuschauertribüne vibrieren lässt. Und dieser Puls wird bis zum Schluss nicht aussetzen. Ganz im Gegenteil. 

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Rhythmus bedeutet dieser Puls allerdings eine ganze Weile erst mal nicht. Die Tänzerinnen und Tänzer üben sich in Posen, in kurzen, ruckartigen Bewegungssequenzen, die, für sich genommen, immer wieder unerhört unterkomplex daherzukommen scheinen. Langes Verharren, immer wieder tableau vivant, zögern, ruhen. Tanz ist das erst mal noch nicht, sollte man meinen. Es ist erst mal ein Ausmessen der Dimensionen, des Raumes und den nicht vorhandenen Dingen darin. Entdecke die Möglichkeiten, sozusagen.

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Bis man sich schließlich fragt, ob es eigentlich sein kann, das dieser eine Hopser gerade albern rüberkam. Kann es sein, dass das ulkig ist? Das Tempo zieht schließlich an, der Pulsschlag wird komplexer Sound, der sich immer mehr etwas mausert, das als „Musik“ gelten darf. Was aber will es? Immer wieder deuten die Performer scheinbar etwas an, agieren aber nichts aus. Kleine, mitunter winzige Gesten entwickeln zielsicher einen mesmerisierenden Sog. Alles findet zu sich, der Rhythmus ist geradlinig, verlässlich. Trotzdem bleibt alles verrätselt. Mal blicken alle vier reglos etwas Unsichtbares in der Ferne an, mal kaspern sie wie mechanische Aufziehmännchen in einem „Ringelpiez mit Anfassen“ herum, dass man sich in einer Clowns-Schule meint. Sie haben viel zu tun. Es bleibt aber unklar, was das ist.

Dabei könnte man fast übersehen, wie ausdruckslos die ganze Zeit über die Gesichter bleiben. Wo sind die Emotionen? In ihnen? Im Publikum? Die Performer legen sich zwar immer wieder auf den Boden und stemmen die Einzelne mit vereinten Kräften in den Himmel. Aber welche Form der Auferstehung das ist, bleibt ein Rätsel. Ein unbedingt faszinierendes.

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Théron hat sein Publikum allerdings nicht mit einem Knoten im Gehirn entlassen. Mit seinem zweiten Stück, „Terre“, hat er alle Verwirrungen gelöst und allen einen immensen Spaß geliefert. Cécilia N’Guyen Van Long, Anaïs Pensé und Anaïs Vignon dürfen sich würdevoll von hinten, vom oberen Ende der Zuschauertribüne, vor zur Bühne performen. So würdevoll das eben geht, wenn man in einer Art Fatsuit steckt, der einen aussehen lässt wie eine Mischung aus Figuren von Oscar Schlemmer und Niki de Saint Phalle. So zumindest die offizielle Erläuterung der schwarzen Ungetüme, die das Gegenteil von Bewegungsfreiheit fördern. Allerdings ist es doch so, dass dort, wo de Saint Phalle in ihren anatomischen Übertreibungen das Weibliche überzeichnet, wird es hier quasi nivelliert und negiert. Da kann man über den Begriff des Bodyshaming noch mal ganz neu nachdenken. Diese drei „Kegelrobben“ tun ihr Bestes, möglichst grazil aufzutreten, unterstützt werden sie dabei durch klassische, nichtssagende Orchesterklänge. Bis sie schließlich die Bühne erreicht haben und sie zu einem lauten Tick-tack aus den Boxen dank ihrer langen Haare ein bisschen überdrehte „Haar-eografie“ vorführen können. Dabei wird deutlich, dass es sich offenbar in diesen klobigen Anzügen dann doch erstaunlich agil bewegen lässt. Und das tun sie mit großer Hingabe zu einem Soundtrack mit Titeln von AC/DC. Das macht die Sache zwar dramaturgisch etwas holprig, weil die meisten Titel einfach nur aneinandergereiht werden (können), aber das ist sowieso alles nicht so ernst gemeint. Die drei schwarzen Ungetüme finden immer wieder skurrile Bewegungsabfolgen, die das Publikum kichern lassen. Und wenn sie mit den Händen seitlich gegen ihre Hüften schlagen, geraten die Anzüge derart in Vibration, dass man zunächst an eine Bildstörung glaubt. Man reibt sich verwundert die Augen, da ist er auch schon wieder vorbei, der Spaß. Dann sollte man sich einfach nicht fragen, was das gerade war. 

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Didier-Theron_schrit_tmacher-2023©TANZweb.org_Klaus-Dilger