– Videoimpressionen –
“Somewhere at the Beginning”
Germaine Acogny / Mikael Serres
NE PAS PEUR – KEINE ANGST
von Laura Brechmann
Im Tanz beschwört ihr Körper die Erinnerung herauf. Sie steht aufrecht, ist mit Himmel und Erde verbunden, und mit stampfenden Füßen beugt sie ihren Rumpf vor und zurück; lässt Hinterteil und Kopf ihre Kreise ziehen und die Wirbelsäule Wellen schlagen. Ihre Hände tanzen in der Luft, gleiten, zupfen, tasten und schütteln ab. Die Bewegungen und ihre Abfolge befreien Körper und Seele. Die Gegenwart, ein Theaterabend im Limburg Theater Heerlen, wird losgelassen und ein Raum für die Vergangenheit geöffnet. Gedanke um Gedanke, Bild für Bild kommen kleinen Staubpartikeln gleich herbei, werden mit klaren Blick betrachtet, analysiert und in Verbindungen gebracht. Der Einfluss der Großmutter, einer Vodoopriesterin aus West-Afrika, und den Ritualen archaischer Kulturen auf Tanz und Technik von Germaine Acogny, der Grande Dame des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes, ist unverkennbar. Diese Wurzeln sind der Ausgangspunkt ihres Tanzes, aus ihnen zieht Arcogny Kraft, Emotion und Energie zur Bewegung. Doch Arcognys Verdienste, die für die afrikanische wie westliche Tanzwelt nicht unterschätzt werden dürfen, liegen in der Transformation. Ritual und Tradition werden mit Kultur und Werten eines modernen, wachsenden und immer wieder von Krisen geschüttelten West-Afrika verflochten.
In „Somewhere at the Beginning“ beschwört Acogny durch Familienaufzeichnungen, Erzählungen, Fotos und vergangenen Gesprächen die eigene Familiengeschichte herauf. Sie erzählt vom Konflikt des Vaters, der als Verwalter den französischen Kolonialherren diente und zum Christentum konvertierte. Weniger aus Überzeugung als aus dem Drang heraus, seinen Herren näher zu sein. Doch um Teil dieser Welt zu werden, meint er mit allen Traditionen und Überzeugungen der Mutter brechen zu müssen. Er wendet sich ab und verleugnet fortan seine Wurzeln. Germaine Acogny, die unerwartete Tochter, nutzt den Tanz um ein intimes Zwiegespräch mit dem Vater zu führen. Sie will wissen warum. Warum der Bruch mit Familie und Tradition? Warum die Entscheidung zu konvertieren, obwohl der Glaube fehlt? Und was bedeuten seine Entscheidungen für sie und ihr Leben? Muss sie es ihm gleich tun und mit dem Vater brechen, weil sie die Großmutter und den mystischen Elementen im Glauben West-Afrikas nicht verleugnen will? Acogny findet keine Antworten. Doch sie verzweifelt nicht. Vielmehr gelingt ihr und dem französischen Regisseur Mikael Serre etwas bemerkenswertes. Die Familiengeschichte wird zur Folie vor der der Konflikt West-Afrikas verhandelt wird. Ein Land, das hin- und hergerissen ist zwischen traditionsreichem Glauben und Moderne. Ein Land, das seine Kolonialgeschichte nie verarbeitet oder verarbeiten hat dürfen. Ein Land, das seine Frauen unterdrückt und seine Menschen, die den Traum eines Leben in der westlichen Welt träumen, zur Flucht verleitet. Die Videoproduktionen aus dem Alltag West-Afrikas, auf einen zarten Fadenvorhang projiziert, verschmelzen mit der Familiengeschichte Acognys.
Die Eindrücke und Verbindungen, die die Inszenierung mit einfachen Mitteln herzustellen vermag, sind eindrücklich. Die Bilder, die von diesem von Vorurteilen besetzten und den meisten (weißen) Menschen fremden Kontinent gezeichnet werden sind dabei nicht faltenfrei, sondern widersprüchlich, zerrissen, intensiv. Die Spannbreite der angesprochen Themen ist groß: Kolonialvergangenheit, Vodoo-Glaube, Frauenrechte, Geflüchtete in Europa, all dies findet seinen Platz in Acognys Solo. Doch durch die Überzahl der Themen droht die Dramaturgie auszufransen. Eine Reduktion der Eindrücke, stellenweise klarere inszenatorische Entscheidungen und ein stärker kohärenter Einsatz von Musik und Sound hätten die Wirkung von Acognys Performance noch intensiviert. Denn in den tänzerischen Elementen drückt sich bereits Kampf und Konflikt, Liebe und Leidenschaft einer ganzen Kultur aus. Der Tanz schafft die Verbindung von Tradition und Moderne. Er irritiert, wirft Fragen auf, hält inne, bricht auf. Durch ihre Bewegungen reflektiert Acogny das Alte, analysiert die Wurzeln. Doch sie romantisiert nicht, sondern findet dort die Kraft aus dem Alten Neues entstehen zu lassen. Nur so wird Wandlung, Veränderung und Zukunft ermöglicht. Und allein für die Zukunft, nicht für die Geister der Vergangenheit, tanzt Germaine Acogny ihren Tanz.