Blutmeer und Hoffnungshelle
Die Münsteraner Tanztheater-Compagnie „Bodytalk“ zeigt das „Westfälische Friedensballett“. Der Frieden hält sich dabei in Grenzen. Das Ballett auch.
Von: Harff-Peter Schönherr
Frieden. In Münster ist dieses Wort oft zu hören, dieser Tage. Inflationär oft. Die Stadt begeht 2023 das 375. Jubiläum des Westfälischen Friedens, und an Veranstaltungen, die an das diplomatische Großereignis erinnern, das 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, herrscht kein Mangel.
Eine von ihnen, eine der wichtigsten, das „Westfälische Friedensballett“, findet zu Füßen der Lambertikirche statt. Wer zu ihrem Turm hinaufblickt, an der Südseite, sieht Grauen erregende Zeugnisse eines anderen Krieges, der in Münster Stadtgeschichte geschrieben hat: Hier hängen bis heute die drei Käfige, in denen ein Jahrhundert vor 1648 die Leichenreste der zu Tode gefolterten Wiedertäufer-Führer Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling zur Schau gestellt wurden.
Der Ort, an dem die Münsteraner Tanztheater-Compagnie „Bodytalk“ ihr „Friedensballett“ zeigt, ursprünglich das „Krameramtshaus“ der Kaufmannsgilde, ist eine sprechende Wahl: Er war einer der Schauplätze der Verhandlungen, durch die, zeitgleich zum Dreißigjährigen Krieg, der Achtzigjährige Krieg zwischen den Niederlanden und Spanien zuende ging. Wer den Tänzerinnen und Tänzern in ihre Garderobe folgt, betritt ein prachtschwelgerisches Kaminzimmer, an dessen fast raumfüllendem Tisch man sich die Friedensverhandler von damals gut vorstellen kann. Heute, als Wissenschafts- und Kulturzentrum „Haus der Niederlande“, erinnert es an die Zeit, als Menschen hier zusammenkamen, um nach einer Generation der Verwüstung halb Europas die Waffen schweigen zu lassen.
So historisch das Setting ist, so modern ist das Bühnengeschehen. So trocken sich dessen Titel anhört, als Verweis auf das 1645 vorgeblich hier aufgeführte „Ballet de la Paix“, so lebensvoll berührt es uns. Frieden ist hier nicht nur ein Gegensatz zum Krieg. Und wer vor Beginn das wundervoll schräge, komödiantisch-ernste Programmblatt liest, das uns wortwitzige Sätze zuruft wie „Stell dir vor, es ist Frieden und keiner kriegt’s mit!“, ahnt, dass es sich für die nächsten 80 Minuten lohnt, Dekodierer zu sein.
Bei „Wally“ und „Tillenstein“ ist das noch leicht, der namensverfremdeten Feldherrn-Prominenz aus dem großen Schlachten, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Aber das „Mehr is dwang gnog“, umrahmt von fahlgüldenem Lorbeer und ebenso fahlgüldenem Eichenlaub, erschließt sich erst dem, der den Saal betritt. Dort ist es an der Wand zu sehen, als Fresko, als Verweis auf die ehrbare Kaufmannschaft. Allerdings steht es da in entscheidend anderer Schreibweise: „Ehr is dwang gnog“. Wer zum Dekodierer taugt, liest das als: „Ehre ist Zwang genug“. Was soviel heißt wie: Wer edel ist, braucht kein Regelwerk, keine Beschneidung seiner Freiheit durch Andere, um dem Guten zu dienen, denn er zwingt sich selbst dazu.
Edel? Gut? Der Mensch, lernen wir von „Bodytalk“, ist das nicht. Zumindest meistens nicht. Oder nicht für lange. Der Frieden hat es also schwer. Und das verfremdende „Mehr“, dass bei der von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart choreografisch und inszenatorisch geführten Produktion genug an Zwang ist? Vielleicht schüttelt es unterschwellig über die Friedens-Inflation den Kopf, die sich das Münsteraner Stadtjubiläum in Namen von 1648 erlaubt. Man weiß es nicht, und das kränkt die Dekodierer-Ehre. Aber der Rest der Rätsel, die das „Friedensballett“ aufgibt, ist lösbar.
Das blutige Gefechtsfeld, das uns erwartet, hält tiefste Abgründe bereit. Man massakriert einander wie beim Red Wedding in Game of Thrones, und dennoch erlischt sie nicht, die Hoffnung auf Nähe, auf Sanftheit, auf gegenseitiges Verstehen. Alles wird zur Waffe, Leid und Tod sind allgegenwärtig, und dennoch lebt sie fort, die Gewissheit, dass es eine Gegenwelt gibt, eine Welt der Helligkeit. Ein Alptraum der Gewalt donnert auf uns ein, ein Strudel der Zerstörung zieht uns ins Dunkel hinab. Und dennoch bleibt die Gewissheit, dass es Schönheit gibt, dass das Gute in uns nicht ohnmächtig ist.
Das Ballett beginnt mit Ballett, ganz klassisch, sehr kultiviert, im Probensaal, wie für das „Ballet de la Paix“. Aber der Bruch kommt schnell, fast atavistisch, und das ist gut so. Die Tanzsprache wird zeitgenössisch: Körper stürzen, rutschen, klettern, krampfen, jagen, zucken, erstarren. Kämpfe branden auf, steigern sich, finden ihre Opfer. Orgiastische Exzesse entladen sich, und wer mit Nacktheit, Sex- oder Folterposen nicht umgehen kann, hat es schwer. Das alles ist stimmungsdicht, ist schwindelerregend und atemlos, ist feinnervig und vielschichtig, ist ein einziges, großes Symbol: Conditio humana.
„Bodytalk“ fordert mit ohrenbetäubend gebrülltem Brutal-Rap heraus. Bässe fahren in den Magen. Becken gellen. Stöcke stapfen. Metall klirrt. Sirenen heulen. Dazwischen virtuoser Kunstgesang, Meditatives wie von der Harfe. Das alles ist live. Das Orchester: Jan Paul Werge. An Flöte, Laptop, Drums und Mikro. Zuweilen zieht er auf High Heels über die Bühne. Zuweilen trägt er Früchte auf dem Kopf, wie in einem Stilleben von Acrimboldo.
Die Lichtfarben sind suggestiv. Die Projektionen auf Boden, Wänden und Decke hüllen uns in Untergangsszenarien, in LSD-Eskapismus. Das hohe schauspielerische Potenzial des Ensembles lässt es zu, dass sich seine Blicke in die unseren bohren. Alles stimmt: die Balance aus Kontrolliertheit und Risiko, die Mimik und Gestik, die Athletik, das Raumgefühl, das Timing, die Immersion in die Rolle.
Streckenweise wirkt das „Friedensballett“ wie ein Happening, und wer es nicht mag, dass das Publikum zur Partizipation aufgefordert wird, ist für eine Viertelstunde ein wenig fehl am Platz. Aber das „Experiment“, das, so das Versprechen, „fast gar nicht weh“ tut (was stimmt), resultiert in einem kraftvollen, Augen öffnenden Bild. Viele der Zuschauenden stehen kurz darauf im Bühnenraum, der jetzt endgültig die Weltbühne ist, als lebende Mahnmale für tödliche Kriege der Gegenwart: Somalia, Kurdistan, Syrien, Mali, Ukraine, Palästina.
Danach ziehen die Darstellenden das Publikum ins Gespräch. Sie offenbaren, sehr persönlich, Wende- und Ankerpunkte ihres Lebens, suchen Bestärkung, bieten ihre Körper dar, auf ihnen das Gehörte zu bezeugen, zu vervollständigen, zu kommentieren, als Zeichnung, als Text. Tänzer Dominik Więcek spricht über das „System“ der Tanzwelt, gegen das zu kämpfen er aufgegeben hat. Tänzer Paweł Malicki malt ein Haus auf seine Brust, fordert dazu auf, andere Häuser dazuzumalen, mit Wegen von einem zum anderen.
Die Offenheit ist groß dabei, die Sensibilität auch. Lachen, Neugier, Scheu, Verblüffung. Plötzlich ist Helligkeit im Raum, Aufatmen. Aber das währt nicht lange: Die Szenen, die dann folgen, sind wie aus Dantes Inferno. Flammenmeere öffnen sich vor uns. Totenköpfe verzerren sich auf zerquälten Leibern.
„Bodytalk“ zielt auf ein Gesamtkunstwerk. Das Publikum hilft, einen der Darsteller mit Paketband zu umkleben. Ein gräflicher Gesandter erzählt krude Geschichten. Es geht um Rosa von Praunheims Armee der Liebenden. Das Publikum wird bewirtet. Manche Kampfszene erinnert an Mad Max. Manchmal liegt der Boden voller Lauchfetzen, weil auch Gemüse zur Waffe werden kann.
Ist der Mensch zum Frieden fähig? 1648 war er es. Nur wenige Jahre danach war schon wieder Krieg in Europa. Wenn wir lernen, anders zu werden, dann durch Abende wie diesen.
3. bis 6.8., Haus der Niederlande, Münster
Veranstaltungsort: Haus der Niederlande (ehemaliges Krameramtshaus) Alter Steinweg 6-7, 48143 Münster Triggerwarnung: Darstellung von sexueller Gewalt – Nicht geeignet für Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren
Nach einer Idee von Ludger Schnieder von Yoshiko Waki und Rolf Baumgart von und mit Anna Katalin Nemeth, Dominik Więcek, Jost op den Winkel, Justin Brown, Luana Rossetti, Paweł Malicki, René Haustein feat. Haftbefehl Live-Musik Jan Paul Werge Ausstattung Marina Schutte Video Sven Stratmann Technische Leitung, Licht Timo von der Horst Produktion David Bäcker Gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Kulturamt der Stadt Münster, Kunststiftung NRW, Stiftung Bürger für Münster.