„In the Dutch Mountains“

Marco Goecke tanzt den Flachland-Blues

Lilo Weber

Die Niederlande sind das, was ihr Name sagt: niedrig. Wer also von Dutch Mountains spricht oder singt, lässt aufhorchen. So auch Marco Goecke, als er als junger Mann in Den Haag Tanz studierte und den Song der Nits lieben lernte. Viele Jahre später gibt er den Songtitel seinem neuesten Ballett mit dem Nederlands Dans Theater: „In the Dutch Mountains“, uraufgeführt im Februar in Den Haag. In dem Song von 1987 erinnert sich der Sänger Henk Hofstede an die langen Schluchten von Backsteinhäusern seiner Kindheit in Amsterdam. Dahinter, weiter draussen, irgendwo, musste es doch Berge geben. Dutch Mountains sind die Sehnsuchtsorte der Flachländler. Sie mögen in der Schweiz liegen, wo sie im 17. Jahrhundert von niederländischen Malern wie Jan Hackaert als ganz neu komponierte Berglandschaften festgehalten wurden. Sie mögen jenseits der Alpen liegen, wohin 1984 Cees Nooteboom im Roman „In Nederland“ (In den niederländischen Bergen) ein Artistenpaar schickte.

Oder eben in den Niederlanden selbst, gleich vor der Haustür. Für Marco Goecke sind die Meereswellen niederländische Berge – er hat sich für sein „In the Dutch Mountains“ vom Meer und Strand in Scheveningen inspirieren lassen. Und das Theater – ein Sehnsuchtsort, den es immer wieder zu besteigen gilt. Den hat er in Den Haag erklommen, mit seinem ersten abendfüllenden Stück für das NDT, für das er seit 2013 Hauschoreograf war.

Leider muss befürchtet werden, dies könnte für eine Weile seine letzte grosse Bergtour gewesen sein. Nach seinem Hundekot-Übergriff auf die Ballettkritikerin Wiebke Hüster in Hannover musste Marco Goecke seinen Posten als Ballettdirektor am Staatstheater Hannover abgeben und er wird sich vor Gericht verantworten müssen. Das ist folgerichtig, scheint aber einigen nicht genug. Da und dort schreien Politiker nach Absetzung seiner Stücke. In den Niederlanden haben rund fünfzig Theater- und Tanzkritiker:innen, viele von ihnen selbsternannt, in einem offenen Brief dem NDT gedroht, sie würden sich keine Goecke-Stücke mehr anschauen und verlangten ein Zeichen für die Freiheit der Kulturkritik. Das NDT hat „In the Dutch Mountains“ getourt, setzt aber die Zusammenarbeit mit Marco Goecke als Hauschoreograf aus. Es mutet trostlos an, wenn nicht einmal Tanz- und Theaterkritiker:innen zwischen der Tat eines Künstlers und seinem Kunstwerk zu unterscheiden vermögen. Die Kunst Goeckes abzusetzen ist schlichtweg dumm.

IN-THE-DUTCH-MOUNTAINS-©Rahi-Rezvani-2023

IN-THE-DUTCH-MOUNTAINS-©Rahi-Rezvani-2023

Der Choreograf erklärte sich gegenüber der New York Times mit dem starken Druck, unter dem er während der Proben in Den Haag stand. Die Mutter krank, Dackel Gustav uralt und bald am Ende – und er, er haben ein Meisterwerk schaffen wollen. Hat er. Aber ob es erkannt wurde? „In the Dutch Mountains“ ist das beste abendfüllende Stück, das ich bis jetzt von Marco Goecke gesehen habe, obwohl – oder vielleicht gerade, weil es sich so hartnäckig der Interpretation widersetzt. Ich muss gestehen, dass ich mir das Stück im Stream des NDT zweimal angesehen habe.

Es ist ein dunkles Stück, von Anfang bis Schluss. Der Himmel wolkenverhangen, Donnergrollen, Regen – und unter dem Wetter trippelt der erste Tänzer auf die Bühne, dreht sich, verflattert sich, verschwindet wieder in den grollenden Elementen und auftritt der zweite, der dritte, die erste Tänzerin. Wie lebt es sich in einem Land, das eigentlich den Fischen gehört, fragt Willem Frederik Hermans in seinem Roman „Nie mehr schlafen“, aus dem zitiert wird. Als Einzelkämpfer eben, die kaum vor Ort kommen, sich in sich und um sich selbst drehen – jeder und jede in einer anderen Art: rasende Pirouetten, Drehungen aus dem ausgestreckten Arm heraus, verquere Fouettés. Erst als die Gruppe auftritt, setzt die Musik ein, Béla Bartóks Konzert für Orchester, ein Raunen aus dem Orchestergraben, das in diese düstere Welt über oder unter dem Meeresspiegel fliesst.

IN-THE-DUTCH-MOUNTAINS-©Rahi-Rezvani-2023

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Mit Bartóks Tanz-Suite kommt so etwas wie Tanzlust auf, allein, ein Zusammenkommen gibt es kaum. „Hallo“ ruft einer und niemand hört hin – das Hallo wird zum Schrei. „It’s nature’s way of telling you, soon we’ll freeze.“ Der Song „Nature’s Way“ ist einer von drei Interpretation von This Mortal Coil im Stück. Er endet im Donnergrollen und aus dem Unwetter pocht der Geist jenes Kindes aus Hiroshima an die Tür: „I Come and Stand at Every Door“ – die wohl unheimlichste Version des Byrd-Songs aus den 1960er Jahren.

Die Wellen scheinen sich mit Johannes Brahms’ 3. Sinfonie etwas zu glätten. Ein nur mit Halskrause bekleideter Mann sorgt mit der Putzmaschine für Ordnung. Und langsam ändert sich das Timing. Da und dort flattert dieser oder jener im Hintergrund weiter und heischt um Aufmerksamkeit. Das Ensemble aber wird zur mächtigen Meereswoge, die Bewegungen werden zur Musik von Brahms verlangsamt, synchronisiert – eine berückend schöne Szene, die zeigt, dass Marco Goeckes grosses Ballett kann.

IN-THE-DUTCH-MOUNTAINS-©Rahi-Rezvani-2023

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Schliesslich stellt sich Charlie Skuy auf eine Leiter und schaut aufs Meer hinaus. Und Emmit Cawley tanzt „In the Dutch Mountains“ von den Nits – ein unglaubliches Solo, das die schnelle, swifte, höchst eigenständige Tanzsprache Marco Goeckes kondensiert und zeigt, wie sie sich während seiner Zeit in Hannover erweitert und zugleich verdichtet hat.

Das Solo allein ist ein kleines Meisterstück. Derlei nicht mehr zu zeigen ein Schildbürgerstreich, peinlich und unverzeihlich.

 IN-THE-DUTCH-MOUNTAINS-©Rahi-Rezvani-2023


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