Studie über die Vergänglichkeit:

Tor zur Hölle, Tor zur Hoffnung

Das Theater Bielefeld zeigt Dunja Jocićs „The Gate“. Starke Bilder erzeugen eine düstere Botschaft: Der Abgrund ist in jedem von uns.

Nachtkritik von: Harff-Peter Schönherr

Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren! So steht es in Dante Alighieris „Divina Commedia“ auf dem Tor zur Hölle.

Auch in Dunja Jocićs „The Gate“ tut sich die Hölle auf. Und die Hölle ist überall: Das riesige Tor, das wie eine enge Schlucht vor uns aufragt, von Nebel umwallt und von Dunkelheit umdräut, zuweilen gleißend grell von weißem Licht durchbrochen, führt nicht von einer Welt in die andere, es dreht sich vor uns, umkreist das Bühnengeschehen, ohne ein Hinten und ohne ein Vorn, ohne ein Innen und ohne ein Außen, es dreht sich und dreht sich, unaufhaltsam, ohne Anfang und ohne Ende.

Zwei gewaltige Monolithe bilden es, wie Bunkertürme, von Eisenstangen durchbohrt. Unnahbar wirkt es, Furcht erregend, mystisch. Bohrt es nicht blendende Lichtlanzen ins Dunkel, folgt fahle Gräue ihm nach. In hemmungsloser Massivität verstellt es den Blick, beklemmend zerhackt es die Szenen, die es umvölkern. Mitunter ist nichts außer ihm selbst zu sehen, als sei alles Leben erloschen.

Die Wesen, die sich vor diesem Tor bewegen, und hinter ihm, und in ihm, sind Wesen der Qual. Sie stürzen und winden sich, halten und heben sich, hinken und kriechen, krampfen spastisch und werden halb zu Tier und Maschine, sie würgen und treten einander, sie erproben Rollen, betasten sich ungläubig, verzweifelt und suchend, als seien sie sich nicht sicher, wer sie sind. Am Ende verlieren sie die letzten Reste ihrer Individualität, gehen auf in einem Kollektiv, in einem zuckenden Knoten gleichsam nackter, uniformer Leiber.

Auf dem Weg zum Individualitätsverlust: Tom van de Ven, Andrea Martín ©Jubal Battisti

Auf dem Weg zum Individualitätsverlust: Tom van de Ven, Andrea Martín ©Jubal Battisti

Ist am Anfang noch Natur zu hören, das Meer, die Rufe von Vögeln, herrscht am Ende erschütterndes Wummern, Dröhnen und Grollen. Dazwischen harte, rhythmische Schläge, hypnotisierende Sphärenklänge, hymnisch schwere Chöre, gellendes, wie splitterndes Kreischen. Heftig ist das.

Jocić verhandelt in „The Gate“ die Selbstsuche des Menschen. Aber diese Suche bleibt ohne Finden, mündet in Entfremdung. Paare begegnen einander, zerschleißen sich zwischen Anziehung und Abwehr, bekämpfen sich. Sie ermatten, sie erliegen. Es müsste nicht so sein, aber es ist so. Am Ende trägt jeder jeden ans Ende seiner Lebenszeit, wieder und wieder, wie
innerlich ins Grab, und der Weg ins Licht scheint ungewiss, ist vielleicht nur ein Trug. Je mehr das Geschehen sich seinem Ende nähert, desto alptraumhafter wird es. Düster ist das. Verstörend bizarr. Und in hohem Maße symbolistisch.

Zuweilen wirkt wie eine Ritualhandlung, was uns hier entgegentritt, wie ein archaisches Tempelopfer. Und wenn die knappe Stunde vorbei ist, die „The Gate“ dauert, stehen Bilder aus John Boormans postapokalyptischer Fantasy-Zukunftsvision „Zardoz“ vor Augen, mit ihrer monumentalen Steinkopf-Gottheit, und aus Francis Ford Coppolas Vietnamkriegs-Blutorgie „Apocalypse Now“, in der The Doors „The End“ beschwören, als Colonel Kurtz durch Captain Willards Machete stirbt, als Apologet des Grauens.

Der Weg zum Kollektiv ist vollzogen: Ensemble ©Jubal Battisti

Der Weg zum Kollektiv ist vollzogen: Ensemble ©Jubal Battisti

Zuweilen wirken die Akteure wie Skulpturen, stehen und bewegen sich wie gemeißelt, und auch das entpersönlicht sie. Zuweilen verzerren sich ihre Gesichter wie in Schmerzen, wie zum Schrei. Es geht um innere Zerrissenheiten, um Kontrolle und Kontrollverlust. Mitunter, oft nur augenblickskurz, flammt Hoffnungshelle auf. Durch einen Blick, eine Geste. Aber sie ist nicht von Dauer. Vielleicht, weil niemand an sie glaubt. Vielleicht, weil niemand an sich glaubt. Vielleicht, weil niemand den Mut findet, nicht sein zu wollen wie alle anderen.

Tänzerisch und schauspielerisch ist das hochklassig. Die Compagnie zeigt starke Soli und Pas de deux, zeigt Kohäsion als Ensemble, zeigt sowohl in Elementen des Klassischen Balletts Expertise als auch in zeitgenössischer Bewegungsprache. Eruption paart sich mit Verlangsamung, Schwerelosigkeit mit Erdhaftung, Triebkraft mit Innehalten. Energie teilt sich mit, Raumgefühl, Leidenschaft, Feinsinn, verständnisreiches Eintauchen in die Rolle.

Starke Bilder sind das. Dass Jocić sich in „The Gate“ an jugoslawische Denkmäler erinnert, „die zu Ehren aller Opfer des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurden“, wie das Programmheft uns versichert, ferner an „die brutalistische Architektur der großen Stadtrandsiedlungen ihrer Heimat Belgrad“, ist zwar nicht erkennbar. Auch, dass die serbisch-niederländische Choreografin den Transhumanismus thematisieren will, die Verschmelzung des Menschen mit Künstlicher Intelligenz, vermittelt sich nicht. Dieser Konzept-Behauptungen hätte es nicht bedurft: „The Gate“ berührt auch ohne sie. Zuweilen ist intellektueller Überbau sinnvoll; hier ist er es nicht. Was wir sehen, sind Seelenzustände, ist die Projektion von Macht. Beides ist so zeitlos wie universell.

Besonders in Erinnerung: Hampus Larsson ©Jubal Battisti

Besonders in Erinnerung: Hampus Larsson ©Jubal Battisti

Auch, dass Jocić rhythmische Gymnastik integriert, die Akteure mit Bällen hantieren lässt, irritiert. Sicher, Jocić war einst Sportgymnastin, sogar Mitglied des jugoslawischen Olympiateams, und ist „sehr glücklich, ein Element aus meiner Vergangenheit einzubeziehen“. Aber sie tut ihrer Choreografie damit keinen Gefallen. Die Bälle wirken wie Fremdkörper, selbst wenn sie teils an Weltkugeln erinnern.

Dass Bühnenbildnerin Stefanie Grau als Inspiration für ihr abstraktes, minimalistisches Monolith-Tor Auguste Rodins szenenopulentes Bronze-„Höllentor“ nennt, eine Illustration nicht zuletzt von Dantes „Inferno“ aus der „Divina Commedia“, leuchtet ein. Dass die Akteure Posen von Rodin zeigen, Posen der Ohnmacht und Verzweiflung, des Aufbäumens, der Angst, erschließt sich allerdings nur dem, der das Tor kennt, an dem der Bildhauer mehr als dreieinhalb Jahrzehnte lang gearbeitet hat. Das Programmheft hätte gut daran getan, es nicht nur ausschnitthaft zu zeigen.

Was von „The Gate“ in Erinnerung bleibt? Außer dem Tor selbst, vor dem jeder von uns Zeit seines Leben steht? Und dem Licht, das suggestiv Leiber aus dem Dunkel modelliert? Und Hampus Larsson, dessen physische Disziplin und hünenhafter Wuchs ihn zu einer idealen Statue macht? Dass jeder von uns seine eigene Hölle in sich trägt – aber vielleicht auch sein eigenes Heil.

Jocić konfrontiert uns mit großen Härten. Aber sie lässt uns nicht ohne Hoffnung. Beides kann Augen öffnen. Jetzt ist es an uns, zu handeln. Der Abgrund ruft nach uns, soghaft. Wir müssen diesem Ruf nicht folgen.

Weitere Termine:  30.3., 4.4., 14.4., 16.4., 21.4., 2.5., 17.5., 21.5., Theater Bielefeld (Stadttheater), Bielefeld

Ball oder Weltkugel: Minouche van de Ven ©Jubal Battisti

Ball oder Weltkugel: Minouche van de Ven ©Jubal Battisti