Solo ist schwer

Zum Abschluss des diesjährigen Bonner Tanzsolofestivals brachte Ruth Childs aus der Schweiz ihre „fantasia“ mit, weniger ein Werk übers Imaginieren als über Ehrgeiz

Nachtkritik von Melanie Suchy

Schließlich kommt sie zurande. Sie besteht. Sie zieht das durch. Fast heroisch. Denn sie wagt sich „auf Augenhöhe“, wie es neudeutsch heißt, mit Beethoven.

Die Tänzerin Ruth Childs startet den letzten Teil ihres Solos „fantasia“, mit dem sie im Theater im Ballsaal gastierte, von der hinteren rechten Ecke der weiß ausgelegten Bühne aus.  Als könne sie gleich eine Turn-Kür starten, so wirkt diese Startposition. Die Tänzerin scheint eine riesige Anstrengung wie eine Prüfung zu bewältigen zu haben. Er und ich. Musik und Tanz. Orchester, Solo. Sie macht sich auf den Weg, kommt kaum voran, ein Stückchen vor, wieder zurück, vor, rückwärts und starrt ununterbrochen zur gegenüberliegenden Seite der diagonalen Strecke. Wie festgezurrt. Die Musik, der letzte Satz der 7. Sinfonie von Beethoven, hat auch lauter Wiederholungen und hält sich auf. Ruth Childs macht kleine Schritte, Schleifschritte, tippelt, hüpft, dreht um sich selbst, springt ein-, zweimal mit beiden Füßen ab. Das Extremste sind Sprünge mit nach außen gerichteten Knien und eingeklappten Unterschenkeln, was an Fotos der berühmten frühen Solotänzerin Gret Palucca erinnert. Das alles im Takt des Allegro con brio; doch zwischendurch stellt sie sich langsam auf wie zum Luftholen, Ausholen, zur Besinnung und hebt nur die Arme, einen hoch, einen zur Seite. Einfach so, groß im Raum, ohne eine Ballettform vorzuzeigen. Atmet.

Sich in den Takt von Musik zu begeben, rechts, links, eins-zwei-drei-vier, kann heutzutage im seriösen Bühnentanz schnell lächerlich wirken. Oder sich als einzelne Tänzerin an ein Beethoven-Orchesterwerk zu platzieren. Vielleicht deshalb wählte Ruth Childs für den Weg hin zur letzten Szene, in der sie sich nun einen ganzen langen Satz hindurch behauptet, ein paar Lächerlichkeiten. Als Effekte befremden sie, und der Humor, falls er gemeint ist, funkt nicht. Da ist die Kostümierung. Zum fleischfarbenen Slip trägt die Tänzerin große T-Shirts und Halblanghaarperücken in passenden Farben: erst Flieder, dann Weiß, Hellgrün, Knallrot, schließlich Dunkel, Braun. Als Lösung.

Ton in Ton

Zu Beginn rührt sich die Tänzerin kaum, bäuchlings auf dem Boden liegend. Arme und Oberkörper heben sich an wie zum imaginierten Flug. Im Stehen dann knickt sie die Arme, die Finger zu geschlossenen Schnäbeln geformt, ein Knie angehoben, wie alten Fotos exotisierender Ausdruckstänze abgeschaut. Als die berühmte Tanzerneuerin Isadora Duncan (1877 – 1927) zu Beethovenmusik auftrat, erntete sie in Deutschland Proteste, seine Musik sei zu heilig für diese Barfußtänzerin. Das ist möglicherweise das Erbe, auf das sich die 1984 in England geborene Ruth Childs bezieht, die Tanz und Violine in den USA studierte, mit zusätzlichem Abschluss in Genf, wo sie seither lebt. Hinzu kommt der Bezug auf Walt Disneys Zeichentrickfilm „Fantasia“ von 1940, bei dem in der Szene zu Beethovens „Pastorale“, die bei Childs den Beginn animiert, ein pinkhaariges Zentaurenmädchen und viele nackte Pos von Putten erscheinen. Unter anderem.

Mit heruntergeklapptem Oberkörper, knickenden Beinen und der an den Hintern gehaltenen, wedelnden Perücke macht sich die Tänzerin zum stolpernden Kitzlein. Im Sitzen mit breit aufgestellten Knien winkt sie kurz einer anderen Solotanzberühmtheit, Mary Wigman und ihrem Hexentanz, zu. Ganz heutig, indem sie ans verdeckte Mikrophon gekoppelte Soundtechnik von Stéphane Vecchione nutzt, ist ihr Dirigieren des Orchesterklangs: Wenn die Tänzerin atmet, ein, aus, röchelt, pustet, sich an den Kopf klopft oder summt, sich dabei krümmt und ruckt, spielt die Musik ab, zerhackt, zerhustet, bis sie „aaaaa“ machen darf im breiten, wohligen Akkord.

„fantasia“, heftig beklatscht vom Bonner Corona-Abstands-Publikum, ist erst das zweite abendfüllende Stück von Ruth Childs; die Premiere war im Oktober 2019. Vielleicht hätte es die etwas zu offensichtliche künstlerische Anstrengung gemildert, hätte sie es für jemand anderes choreographiert.