Die Zukunft von früher – Flat things, reproduced – „RELICS “- Premiere von Emanuele Soavi   Theater und Philharmonie Duisburg

Nachtkritik von Melanie Suchy

HIER GEHT ES ZU DEN VIDEOIMPRESSIONEN

Der Kölner Choreograph Emanuele Soavi hat in den letzten Jahren alte Mythenstoffe mit Zeitgenössischem Tanz aufgefrischt. Sein neues Stück „RELICS“ scheint ein fesches Resümee zu sein. Allerdings sind die guten alten Geschichten  ja nie auserzählt; jede Generation findet ihre eigenen Spiegelbilder darin. Dass sie es wert sind, genauso wie der Tanz als Körperkunst, aufgehoben und immer wieder neubelebt zu werden, dafür sprechen Soavis Werke, auch diese „Überbleibsel“.

Nichts bleibt. Oder: Nichts bleibt, wie es ist. Aber: Etwas bleibt. Denkt man, recht erschöpft nach der irgendwie übervollen Vorstellung. Vor lauter Bewegtheit, dem etwas Flüssiges zugrunde liegt, merkt man ja, wie sich Augen und Gedanken an etwas festzuhalten suchen. Gegen Ende waren es die Strahlen, das helle Licht, das von der Seite durch die Lücken zwischen vier aufrecht gestellten Tischen hindurchschien, so dass es sich auffächerte auf dem Bühnenboden. Den Tänzern tat das nichts, einige von ihnen eroberten sich den nach hinten geöffneten Raum, stromerten durch die leeren roten Sitzreihen des Theaters Duisburg – denn wir Zuschauer saßen auf Podesten auf der Bühne selber. Die restlichen vier Tänzer begannen lockere Duette, als ob gerade etwas von vorn begänne. Und oben drüber verkündete eine Art Schild, projiziert, Endlosigkeit und dann „them & us, them like us, a new ‚We‘“, was immer das ironisch oder pathetisch-prophetisch wem verheißen wollte; und in der elektronisch hallenden Musik aus Gluckern, Reiben, Sirren, Pauken, kristallisierten sich ein paar bekannte Töne: Bach. Fernes Echo in Splittern, wie Ahnungen, versunken unter Eis, eigentlich Hoffnungen. Auf was? Auf Schönheit. Und vielleicht auf etwas Göttliches, Ewiges, das strahlen, erleuchten, erlösen  könnte.

Diese „RELICS“, die Emanuele Soavi für acht agile Tänzer choreographiert hat und denen über die größte Strecke das Barockensemble der Duisburger Philharmoniker die Musik spendet, Johann Sebastian Bachs Brandenburgische Konzerte Nr. 4 und 5, bröselt ein ganz großes Thema auf: die Menschheit oder das Menschsein. Das Miteinander mit sich und mit anderen. Die Körper. Die Gesichter, die Blicke. Die Geschichte. Dass die Choreographie aber nicht  vor lauter Bedeutsamkeit (wie man es anhand des geschwollenen Programmhefttextes fürchten könnte) schnauft und keucht, sondern den Betrachtern und Zuhörern eher zuwinkt und –zwinkert, das liegt an Soavis Sinn fürs Spielerische.

Tohuwabohu

Das, was „Relikte“ sind, fängt logischerweise mit einem Ende an. Oder etwas, das wie ein Ende wirkt: Die Zuschauer schlendern, drängeln fast, durch einen Raum, in dem auf niedrigen  Podesten Körper aufgebahrt sind, liegend, hockend, bedeckt von blutroten Tüchern. Einen Hauch von Museum, von edler Ausstellung hat das Arrangement, aber auch von „Anatomie“, wie eine Zuschauerin ihrer Begleitung zuflüstert. Entblättert zu hell- und glatthäutigen, unübersehbar schönen Leibern, wachen die Exponate allmählich auf und ziehen sich an. Einer, der dabei nach oben schaut, wie jenseitig gestimmt, der wird auch gegen Ende des folgenden langen Tanzes diesen Blick aufsetzen, dieses Abdriften oder Suchen. Die dunkelgrauen Hosen und Jacketts über weißen Hemden machen die Tänzer nun zu heutigen, doch nicht modisch einzuordnenden Menschen. Währenddessen spielen die Musiker schon ihren Bach, höchst lebendig. Ganz unmittelbar leuchtet hier das Zeitenüberbrücken ein, so wie die alte Musik einem jung vorkommt. Wie spannend ist dann überhaupt noch die Relikte-Frage?

Was heben wir auf?

Emanuele Soavi spielt mit dem Erinnern, obwohl oder gerade weil die Tanzkunst auf der Bühne so supergegenwärtig ist, nur das Präsens kennt und weder Präteritum noch Futur. Er klaubt aus der Kunstgeschichte Bilder, die  man vielleicht erkennt. Einmal ist es das „Abendmahl“, zu dem sich die Tänzer, scheinbar sitzend, an die lange niedrige Tafel begeben, dabei jedoch die Jünger – oder heutige Imitatoren – als Grobiane entlarven, die einander mit Mienen und Fäusten angiften. Ein andermal, gegen Ende, das wiederum auf einen Anfang hinweist, werden zwei Tänzer, Mann und Frau, zu willenlosen schlappen Puppen, die von den anderen Tänzern gehalten und bewegt werden und mit wuseliger Mühe zu dem erhabenen Moment geformt werden sollen, in dem ein entspannt sitzender Adam seine Hand hebt, auf deren Finger  von oben ein Gott, oder Eva, antwortet. Oder umgekehrt. Hier auf der Bühne aber kommt die Verständigung nicht zustande. Die Verbindungslinie zerfällt, sie war nur Plan – oder Erinnerung an früher.

Neben solchen komischen, grotesken Szenen, die Soavi nie theatralisch ausschlachtet, sondern eher hintupft,  bauen sich auch manchmal Skulpturen auf: wenn Tänzer einzeln oder zu mehreren plötzlich im Bewegen innehalten. Als habe man sie beim Zuschauen mit einem Blinzeln festhalten können, oder als laufe einfach mal die Zeit folgenlos weiter. Irreale Momente, die kurz weilen, sich dann auflösen. Einmal entsteht so eine gebildhauerte Gruppe, die eine Kurve beschreibt, von einem großen, aufrecht stehenden Menschen herab zu einem, der liegt und halb über die Kante des Tischinselpodestes herabhängt. Vielleicht eine Gesellschaft Ungleicher, vielleicht eine im Bild kondensierte Geschichte. Die Stärke von „RELICS“ ist die Mehrdeutigkeit, die dem Publikum Deutungen anbietet, aber nicht einhämmert.

Flat things, reproduced

Die Schwäche ist manchmal die Eile, mit der eins dem anderen folgt, Tische rein, Tische aneinander, Tische raus, wieder rein, Solotanz, alle tanzen, Kleingruppe tanzt, auf, an, neben den Tischen, so dass man beim Zuschauen den Gedankenfaden verliert. Doch gehört diese Verwirrung auch zum Thema. Dass der Tanz einem davonläuft wie das Leben… Zunächst geben einzelne Tänzer Bewegungsideen vor, die anderen übernehmen und haken ebenso den Arm hintern Kopf. Oder sie folgen Impulsen, wie angestoßen. Später werden sie eigener, machen zu zweit im Sitzen ein Ruckeltänzchen oder bilden eine Art Zwillingspaar, das im Spiel aneinander  die Unterscheidung verliert; sie heben zu dritt jemanden in die Höhe wie Wogen, oder eine verknotet sich vergnügt. Mal heben, schieben die eigenen Hände die eigenen Knie, Ellbogen, den Kopf, mal ziehen und drücken sie an jemand anderem, oder alle hängen an allen, als Kette oder Klump. Die elegante, fließende Leichtigkeit, die durch alle Dynamikwechsel von flott zu langsam, hindurchfließt und sich zuweilen als Meer zeigt, das durch einzelne Körper wellt oder sie kreiseln lässt, mal die Gruppe hebt und schiebt: Sie macht den Tanz allein als Tanz zur Augenweide.

Göttlich

Vielleicht ist auch er ein Relikt, etwa aus barocker Zeit, in der das Ballett entstand, dessen gestreckte Füße und Gliederorientierungen Soavis Choreographie speisen (mit Erinnerungen auch an den Stilerneuerer William Forsythe), doch spricht er den heutigen Schönheitssinn immer noch an wie Bachs Brandenburgische Konzerte, in die er sich, nach anfänglicher Distanzierung, immer mehr hineinfallen lässt, in ihren Rhythmus, ihren Schwung. So wie Wolfgang Voigts und Stefan Bohnes hallende und scharrende Elektrotöne auf den Bach folgen und die Ohren peinigen, scheinen auch die Tänzer, allesamt große Könner, später die Ganzheit ihrer Körper zu verlieren, wenn nur noch Teile über die niedrigen Tischkanten ragen und sie ihre eigenen Gesichter mit Händen fassen, als seien sie fremd und manipulierbar.  Das ist der Gruß ans Jahr 2017, an die Unterwerfung unters Mediensoziale. Aber das ist nicht das letzte Wort.

Mit: Emiliana Campo, Federico Casadei, Quentin Dehaye, Sooyeon Kim, Lisa Kirsch, Mark Christoph Klee, Francesca Poglie, Cosmo Sancilio, Wolfgang Voigt, Stefan Bohne und dem Barockensemble der Duisburger Philharmoniker