Die Meisterin der Innenwelten

Zur Neueinstudierung von Pina Bauschs Macbeth-Paraphrase in Wuppertal

Nachtkritik von Norbert Servos

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Das Stück ist legendär. Nicht nur, weil es bei seiner Uraufführung am 22. April 1978 am Schauspielhaus Bochum einen veritablen Theaterskandal auslöste. Es markiert auch den Beginn von Pina Bauschs ganz eigener Arbeitsweise. Denn fünf Jahr nach ihrem Start in Wuppertal lag die Choreographin mit einem Großteil ihres eigenen Ensembles über Kreuz. Die Mehrzahl der Tänzerinnen und Tänzer mochte ihrer Prinzipalin nicht weiter folgen; manche munkelten gar, sie wüsste überhaupt nicht, was sie wolle. Hinzu kam ein beträchtlicher Druck von außen: Abonnenten, die scharenweise die Vorstellungen verließen und beharrliche Verrisse von einem Gutteil der Presse.

Pressebilder Er nimmt sie an der Hand...©TANZweb.org_Klaus Dilger

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In dieser Situation nahm Pina Bausch dankend das Angebot des Bochumer Intendanten Peter Zadek an, ihre eigene Sicht auf Shakespeares „Macbeth“ zu  kreieren – und besetzte das Stück mit nur vier Tänzern aus dem eigenen Haus (Josephine Ann Endicott, Dominique Mercy, Jan Minarik, Vivienne Newport), fünf Schauspielern (Mechthild Großmann, Hans Dieter Knebel, Rudolph Lauterburg, Volker Spengler, Vitus Zeplichal) und einer Sängerin (Sona Cervena). Damit aber stand sie vor einer für eine Choreographin neuen Arbeitssituation. Denn schwerlich konnte sie mit Bewegungsideen die Proben bestreiten. Statt dessen entschied sich Pina Bausch dafür, die Fragen, die sie an Thema und Stück hatte, als Ausgangspunkt zu nutzen, um daraus die Ingredienzen für ihr Stück zu gewinnen. Es sollte ihre Arbeitsweise für alle zukünftigen Produktionen und zu einem Markenzeichen des Tanztheaters werden.

Pressebilder Er nimmt sie an der Hand...©TANZweb.org_Klaus Dilger

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Das Ergebnis dieser freien Recherche, das – einer Regieanweisung Shakespeares folgend – unter dem langen Titel „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen“ herauskam, bot Zündstoff gleich auf mehreren Ebenen. Die Tänzer tanzten nicht, die Schauspieler rezitierten nur wenige von Shakespeares wohlgesetzten Worten und die Sängerin sang keinen einzigen Ton. Niemand tat, was er gewöhnlich zu tun hatte. Statt dessen gab es pure, wenn auch choreographisch durchkomponierte Aktionen. Überdies verlegte Pina Bauschs Bühnen- und Kostümbildner Rolf Borzik ihre Sentenzen in ein desolates Sperrmüllambiente aus ausgeleierten Sitzmöbeln, einem zerbrochenen Bettgestell, einer Duschkabine, Kartons voller Spielzeug. Aus einem Gartenschlauch rinnt über die gesamte Spieldauer Wasser in eine Senke an der Rampe – wie ein Symbol der unwiederbringlich vergehenden Zeit. Das entsprach zwar dem Geist des Regietheaters, denn auch ein Zadek überführte die hehren Klassiker gerne in die triviale Alltagswelt der Gegenwart. Doch Pina Bausch ging noch einen Schritt weiter, indem sie dem Stück weitestgehend die Sprache nahm und die Problematik von Schuld und Sühne als infantiles Machtspiel entlarvte.

Macbeth Pressebilder Er nimmt sie an der Hand...©TANZweb.org_Klaus Dilger

Macbeth Pressebilder Er nimmt sie an der Hand…©TANZweb.org_Klaus Dilger

Derlei revolutionäre Attacke konnte den in Bochum tagenden Mitgliedern der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die sich weiland noch als Gralshüter des englischen Theaterklassikers verstand, nicht gefallen. Der Premieren-Tumult des protestierenden Publikums war streckenweise so laut, dass die Vorstellung immer wieder ins Stocken geriet. Doch auch der Wuppertaler Uraufführung am 9. November 1978 erging es kaum besser. Irritierte und enttäuschte Sehgewohnheiten machten sich auch hier lautstark Luft. Was war geschehen?

Pina Bausch hat nicht nur einen hehren Klassiker vom Thron gestoßen und auf Menschenmaß gestutzt, indem sie seinen Inhalt in die Trivialität des Alltags überführte. Vor allem hat sie an seine Stelle etwas Neues gesetzt. Ihre Trivialität ist an keinem Punkt plakativ, sondern wahrt immer eine heikle Poesie des Augenblicks, die viele Bedeutungen zugleich anklingen lässt, nicht nur eine. Es entspinnt sich ein komplexes Netzwerk von gleichzeitigen Bedeutungsebenen, die nur vordergründig eindeutig erscheinen. Bei näherem Hinsehen begreift man, was alles noch gemeint ist. Shakespeare ist – das mag man für ein Sakrileg halten – nur noch der Anlass für eine sehr eigene Sicht auf das Thema Macht und ausweglose Verstrickung, auf infantile Gier und ihre katastrophalen Folgen. Darin ist der Stoff – das entdeckt man in dieser Inszenierung – so aktuell wie je. Und nicht weniger ist es Pina Bauschs Inszenierung.

Schuld ist ein Kernmotiv dieses Stückes. Schon zu Anfang wälzen sich die im Raum verteilten neun Akteure in einem unruhigen Schlaf, drehen sich schneller und schneller – und finden doch keine Erlösung. Wieder und wieder wird, verfolgt von Alpträumen, geschrieen. Immer wieder hetzt die Musik sie in ein kopfloses Rennen, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie sich lassen könnten. Sie versuchen, etwas von den Händen zu wischen bis hin zu einer grandiosen Schrei-Arie einer Tänzerin, die verzweifelt einen Gartenzwerg wäscht: „Tony, du bist so schmutzig. Das geht nie wieder ab.“ Hysterische kurze Lachanfälle werden umgehend mit einem „Entschuldigung“ quittiert, doch auf Dauer unterdrücken lässt sich die innere Not auf Dauer nicht.

Pressebilder Er nimmt sie an der Hand...©TANZweb.org_Klaus Dilger

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Das hehre Drama und die Trivialität des heutigen Alltags liegen bei Pina Bausch nah beeinander. Gewöhnliche Floskeln verschmelzen mit Textzitaten aus Shakespeares „Macbeth“, die streckenweise geschrieen, zerlacht, hervorgepresst werden. Wir alle sind Macbeth. Wir alle laden Schuld auf uns. Wir alle verirren uns im Labyrinth konventioneller Verhaltensweisen, die weitab liegen von allen wirklichen Sehnsüchten. Benimmregeln führt Pina Bausch als absurde Akte der Selbstdressur vor. Gefühlsausdrücke geraten zu grotesken Showeinlage unter Anleitung einer gestrengen Moderatorin. Wo bleibt der Mensch zwischen den Konventionen mit seinen wahren Bedürfnissen?

Pressebilder-Er-nimmt-sie-an-der-Hand...©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Immer wieder auch fragt Pina Bausch nach dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Ein Paar fordert sich gegenseitig Liebesdienste ab, von Mal zu Mal wütender, unbefriedigter. Wenn denn doch einmal sanft um Liebe geworben wird, läuft der Versuch ins Leere. Die Blume, die ein Liebhaber überreichen will, fällt ins Wasser. Ein anderer Mann wirft Geld in eine Music-Box, um immer wieder einsam ein Tänzchen mit einer imaginierten Partnerin zu absolvieren. Unerfüllt bleiben die Wünsche; und allzu oft schlummert unter der konventionellen Oberfläche eine brutale Aggressivität. Da klappt ein Mann einer Frau die Schenkel auseinander, schreit sie an: „Bist du aber schön!“ Schockierend roh ist die Diagnose, die Pina Bausch dem Geschlechterverhältnis stellt. Und bei all diesen Exkursionen in die Gegenwart, findet sie ihre Anlässe doch immer in Shakespeares Text. Dessen Erzähllinie bleibt – als Comic Strip vorgetragen – das ganze Stück über präsent, hält es wie einen roten Faden zusammen. An dieser Linie entlang hat Pina Bausch ihre Untersuchungen zum Thema aufgereiht, hat das alltägliche Gestenrepertoire befragt und ganze Sequenzen über Nervosität, hektischer Selbstkontrolle, Größenwahn, angespanntes Warten zusammengetragen und auf die Endlos-Diagonale geschickt.

Pressebilder Er nimmt sie an der Hand...©TANZweb.org_Klaus Dilger

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Überhaupt nimmt das Warten beträchtlichen Raum ein in dieser Macbeth-Paraphrase. Immer wieder fällt das 3 1/2-stündige Stück in lange, stille Passagen der Ruhe bis Lethargie, die eine ganz eigene Schönheit besitzen. Da sitzen alle in einer Reihe aus Kinositzen, fixieren das Publikum, rücken langsam von Stuhl zu Stuhl, als wär’s ein Kinderspiel. Ein anderes Mal pflücken sie zu den Klängen von Verdis Macbeth-Oper Imaginäres in Zeitlupe vom Boden, scheinen wie aus der Zeit gefallen. Worauf warten sie? Darauf, dass die Schuld, der Verrat endlich entdeckt wird? Dass dies die Erlösung brächte?

Nicht nur sind in diesem frühen Werk von 1978 bereits alle Ingredienzen des Tanztheaters enthalten, sind die Themenfelder abgesteckt. Vor allem zeigt sich hier, welche Meisterschaft Pina Bausch von allem Anfang an im Umgang mit der Zeit beweist. Wie sie ihr Stück rhythmisiert, in harten Schnitten und Gegenschnitten wie bei einem Film Energien aufbaut, die ihr Raum geben für lange vertiefende Meditationen über ihr Thema. Nur so sinken die Szenen tief genug ins Bewusste und Unterbewusste des Zuschauers ein, um dort eine nachhaltige Bewegung auszulösen. Von den Darstellern verlangt dies allerhöchste Konzentration und absolute Präsenz. Die Besetzung der Wiederaufnahmepremiere mit den Schauspielern Johanna Wokalek und Maik Solbach sowie den Ensemblemitgliedern Jonathan Fredrickson, Breanna O’Mara, Julie Shanahan, Oleg Stepanow, Julian Stierle, Michael Strecker und Tsai-Wei Tien meistern diese Aufgabe mit Bravour. Der Abend trägt von Anfang bis Ende. Da hat Josephine Ann Endicott als Porbenleiterin, unterstützt von Hans Dieter Knebel und Bénédicte Billiet, ganze Arbeit geleistet.

Wer nun glaubt, das Stück sei inzwischen von den Zeiten überholt, schließlich fände man trivialisierende Aktualisierungen von Klassikern an jeder Straßenecke, der schaue noch einmal genauer hin. Denn bei Pina Bausch gilt keineswegs die Devise „Anything goes“, wonach man alles mit allem verwursten kann. Sie schürft nicht an der Oberfläche, sondern fragt so lange, bis sie tiefere Wahrheiten über unser aller Innenwelten zutage fördert. Darin ist dieses Werk nach wie vor einzigartig.