schrit_tmacher justDANCE! in Eupen

Zeitverzögerung

Um fliegen zu können, brauchen wir keine Flugzeuge. Zu allererst brauchen wir dafür erst mal nur unsere Vorstellungskraft. Und dann vielleicht ein paar kleine Tricks. Die französische Compagnie Barks hatte gestern im Eupener Alten Schlachthof so einiges davon im Gepäck. In einer Kooperation des schrit_tmacher-Festivals mit Scenar!o, dem Festival für Theater, Tanz und Zirkus, haben sie das Publikum auf eine unwirkliche Reise entführt. Obwohl dabei eigentlich nur die Wahrnehmung und die Gedanken abgehoben sind. 

Von Rico Stehfest

Auf einem hohen Berg, also einem ganz hohen, so heißt es, verginge die Zeit langsamer als ganz tief unten im Tal. Und im Weltall ist das ja noch mal eine ganz andere Nummer. Je schneller man fliegt … komplexe Sache. Dabei muss es gar nicht unbedingt schnell sein. Im Gegenteil. Je langsamer, desto merkwürdiger kann der Effekt sein. Und desto stärker kann sich die Wahrnehmung verschieben.

Für ihre Performance „Moon“ haben Compagnie Barks einen Parcours aus fünf Stationen aufgebaut, die das Publikum nacheinander besucht. Den Auftakt im Foyer macht ein Performer, der gleich von Anfang an die Gesetze der Schwerkraft aufhebt. Wie er das macht, ist nicht neu: Starke Magneten unter den metallenen Schuhsohlen sorgen für einen Stand, den wir so sonst nicht haben. Bei dem, was er tut, wären wir schon längst umgekippt. Das macht er in einem entspannten Soundtrack atmosphärischer Klänge und zeigt dabei, dass man sich auch einfach so hinsetzen kann. Dazu braucht es keinen Stuhl. Dazu braucht wenigstens er gar nichts.

Moon©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Moon©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Wie ein im Moment eingefrorener Orkan wirkt die zweite Station: Ein Tisch und zwei Stühle befinden sich jeweils in Positionen, die so laut Schwerkraft gar nicht möglich sind. Diese schiefe Ausgangslage nutzen eine Performerin und ein Performer in fast kindlicher Ausgelassenheit, indem sie mal ganz kontemplativ darauf, darunter und darum herum klettern, rutschen, hängen und stehen. Windgeräusche lassen tatsächlich die Assoziation zu einem Durcheinander im Sturm zu. Bis der Spaß an Tempo gewinnt und beide fast wie um die Wette „über Stock und Stein“ turnen. Irgendwie scheinen da ganz ein paar Regeln aus dem Alltag nicht zu gelten.

Völlig schwerelos wird es aber auf der großen Bühne. Die ist zuerst einfach mal eins: leer. Angesichts der bisherigen Stationen stellt sich da die Frage, welche merkwürdige Apparatur hier zum Einsatz kommen wird. Und es zeigt sich: Es ist ein kleiner, federleichter Papierflieger. Nicht nur, dass dieser geräuschlos und elegant langsam und weit durch den Raum gleiten kann. Wenn einer der Performer nur im richtigen Winkel mit einem kleinen Brett von unten den Luftstrom unter dem Papierflieger so manipuliert, dass dieser, ohne jede Berührung, weiter gleitet, ohne sich in Richtung Boden zu bewegen, scheint sehr schnell die Zeit einfach stehen zu bleiben. Das Ganze scheint keine fünf Minuten zu dauern, könnte aber endlos so weitergehen. Wenn Zeit „wie im Flug“ vergehen kann, dann tut sie das hier auf jeden Fall.

Eine Art Wippe für eine einzelne Performerin stellt die vierte Station dar. Bevor diese ins Wanken gerät, klettert aber erst mal einer aus dem Team die Türen des Saals hoch. Also, nicht einfach so. Er hat dafür so Dinger, die sich mit lauten Geräuschen an Oberflächen „festsaugen“. In Schlaufen an deren Ende kann man jeweils einen Fuß einhängen, und los geht die Kletterpartie. Was eigentlich nicht als Spielzeug gedacht ist, wird hier ganz einfach im Wortsinn der „Leichtfüßigkeit“ zum Spaßfaktor.

Moon©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Moon©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Und die Wippe … Tja, wie beschreibt man das, wenn man das nicht gesehen hat? An einem Ende dieses stählernen Ungetüms befestigt sich eine Performerin seitlich an der Hüfte, während sie in einer Art Sicherheitsgurt sitzt. Das andere Ende wird durch schwere Gewichte ausbalanciert; die Mitte liegt nur auf dem Boden auf, ist also um die eigene Achse drehbar. Was die Performerin daraus macht, ist geradezu schwindelerregend. Um jede nur mögliche Achse dreht sie ihren Körper, findet ihren ganz eigenen „Moonwalk“. Sie springt und verharrt für einen Moment in der Luft, kopfüber oder läuft auf den Händen. Die Schwerkraft ist hier ausgebremst, verlangsamt, sodass ihre Bewegungen völlig mühelos wirken. Es ist, als bräuchte es für nichts wirklich Muskelkraft. 

Für die letzte Station hat das Publikum Mütze und Handschuhe gebraucht. Auf dem Platz hinter dem Gebäude war auch eine Art Wippe aufgebaut, auch drehbar um ihre Mitte, allerdings deutlich größer und so konzipiert, dass sie nach dem Scherenprinzip ein- und ausgefahren werden konnte. Eigentlich hat es schon ausgereicht, jemanden daran oder darauf zu sehen, während sich diese Kuriosität geräuschlos drehte. Zentrifuge, Gestirne, ein Umkreisen, das genau so einfach kein Ende finden müsste. 

Um das genießen zu können, braucht es nur wache Sinne, keine weiteren komplizierten Überlegungen. Und plötzlich wird das eigene Sein wirklich schwerelos, federleicht. Und alles erscheint möglich.

Moon©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Moon©TANZweb.org_Klaus-Dilger