Gesprächsrunde beim Festival UmPolen im Pumpenhaus in Münster

UmPolen, um Polen herum und in Polen

von Melanie Suchy

Im Anschluss an die Aufführung von „Every Minute Motherland“ beim Festival UmPolen im Pumpenhaus in Münster gab eine vom Kulturjournalisten Thorben Ibs moderierte Gesprächsrunde einen Einblick in dessen Entstehung und in die Möglichkeiten, die der zeitgenössische Tanz und die Kunst in Polen haben.

Eigentlich wollte er ein anderes Stück machen, sagt Maciej Kuźmiński. Doch als am 24. Februar 2022 der Krieg mit der Attacke Russlands auf die Ukraine begann, entschied er, in Absprache mit den Koproduktionspartnern in Łódź und Münster, „ein Stück über die Situation zu machen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken“. Der polnische Choreograph, Jahrgang 1985, ist auch in Deutschland kein Unbekannter mehr seit dem Auftritt 2016 bei der Internationalen Tanzmesse NRW in Düsseldorf im dortigen Tanzhaus NRW, dem Gastspiel mit „Plateau“ (Teatr Rozbark) in der Kölner TanzFaktur 2021 sowie seiner Gastchoreographie für die Tanzkompanie am Staatstheater Kassel im Frühsommer 2022. Mit Hilfe von Polina Bulat nahm er nun Kontakt auf zu einem von ihr geknüpften Netzwerk von nach Polen geflüchteten Tänzerinnen und Tänzern und gab Workshops. Per Audition nahm er vier Tänzerinnen auf mit unterschiedlichen Ausbildungshintergründen. „Zeitgenössischer Tanz ist in der Ukraine eine Nische“. Die jüngste ist 20 Jahre alt. Im Zoom sprachen sie erst lange miteinander, über die Erfahrungen des Krieges, der Flucht und die Möglichkeiten der Kunst. 

„Wir mussten um das Thema herumarbeiten“, berichtet Kuźmiński. Es ging allen zu nah, Tränen flossen. Also entstand im ständigen Dialog etwas, das bestand aus Individuellem, das sie alle miteinander teilen konnten, und Gemeinsamem, was sie an Gefühlen verkörpern konnten. Ein „Wir“ als Gruppe aus polnischen und ukrainischen Tänzerinnen und Tänzern konnte entstehen.

Auch bei der Musikauswahl merkte er, dass er vermeiden musste, was zum Klischee und platt würde, sagt Kuźmiński. Zwei der ausgewählten Musiken bearbeitete bis zur Unkenntlichkeit, so dass sie eine Art „ritualistischen Hintergrund“ abgäben. Das ukrainische Lied, gespielt von einer dort berühmten Band ließ er pur. „Wie kann man diese Wut und den Hass ausdrücken, das Gefühl, morden zu wollen und gleichzeitig über dieses Gefühl zu erschrecken?“. Da er keine Antwort fand, ließ er auf weiten Strecken den Tanz ohne Musik. Er brauche sie nicht. 

Auf einander hören

Ausnahmsweise übernahm Kuźmiński in der Münsteraner Aufführung des Stückes selber eine Rolle, um einen woanders engagierten Tänzer zu ersetzen. Er überragt die anderen auf Bühne um einen Kopf, aber spielt sich nie in den Vordergrund. Im Gegenteil. So viele Bewegungen und Phrasen seien ja gar nicht von ihm, stellte er beim Einüben fest, und wie schwer es ihm deshalb fiel, sich selber damit zu koordinieren.

Polina Bulat, Journalistin und Kulturmanagerin, war schon am 28. Februar nach Polen ausgereist und begann dort sofort, Tanzkompanien und Institutionen zu kontaktieren, um ukrainischen Tänzern Arbeit zu verschaffen. „Niemand verweigerte die Hilfe“, freut sie sich nachträglich. Gab es keine gemeinsame Sprache, nicht einmal Englisch, konnte jemand immer noch Kinder im Tanzen unterrichten, wobei Reden nicht so wesentlich ist. Die Tanzschaffenden organisierten sich auch selbst, warteten nicht opfermäßig ab, sagt Polina Bulat stolz.

Einen kursorischen überblick über polnische Kulturpolitik nach der Wende 1989 lieferte der Kulturwissenschaftler Przemysław Czapliński. In der ersten Phase, bis 2005, habe das Dogma der sich selbst finanzierenden, individuell orientierten Kultur geherrscht, anschließend das der Kultur, die in der Nation eingebettet ist und daraus ihre Werte schöpft. Die erste Kulturministerin damals war eine ehemalige Theaterdirektorin. Die Kultur werde nun endlich keine Anweisungen mehr von Staat erhalten, kündigte sie an. Doch die Unabhängigkeit zeigte sich zunehmend als unfinanziert. Die – angebliche – Überzahl kultureller Institutionen aus der sozialistischen Zeit wurde gekappt, Gelder wurden gestrichen, „bis hin zum Kollaps“. Stichwort Bildung: Ab 1991 waren Privatschulen und -universitäten erlaubt. Sie sprossen zahlreich, aber nur für zahlende Kundschaft.

Nach dem Wahlerfolg der PiS-Partei 2005 änderte sich die Kulturpolitik. In die Namen großer Institutionen wurde „national“ eingefügt, was nicht nur oberflächlich gemeint war. Die Leitungspersonen wurden eingesetzt, nicht von Gremien gewählt. Geld floss aus öffentlicher Hand unter der Bedingung, dass die Kultur den Werten der Nation und des Nationseins entspreche, worunter etwa das Nichtverletzen religiöser Gefühle gehört. So erscheinen nun regelmäßig Kulturleute in den Nachrichten, die wegen Missachtung abgesetzt oder gar vor Gericht gezerrt werden. Das Gesetz also stehe immerzu drohend über der Kultur, fasst Czapliński, zusammen. Er hoffe, nach zwei sich schlecht erwiesenen Kulturpolitiken eines Tages eine bessere dritte kommt. 

Don’t give up

Noch ein Datum: 2004 trat Polen der EU bei. Maciej Kuźmiński war 19 Jahre als und zog nach London, um zeitgenössischen Tanz zu studieren. Das war damals in Polen nicht möglich. Er kehrte zurück, auch weil er die Chance erkannte, etwas Neues aufzubauen. Aber: Immer noch ist es Aufbauen, „alles muss man selber tun“. Sehr wenige Institutionen, Theaterhäuser, Kompanien und Förderungen gibt es bis heute, so dass er auch häufig außerhalb Polens arbeitet, um zu arbeiten. So klein sei die Tanzwelt in Polen (nur drei Kompanien mit zeitgenössischem Tanz, die ihre Mitglieder das Jahr hindurch anstellen können), dass ihr Verschwinden kaum jemand bemerken würde. Ganz anders als die sehr starke, angesehene Theaterszene. Und ja, „es gibt Zensur“ im Tanz, jedoch nicht direkt von oben, sondern als „chilling effect“. Als Kuźmiński 2019 für die Company des Teatr Rozbark das schwarzhumorige „Plateau“ über nationale Symbole schuf und auch die LGBTQ-feindliche Propaganda ein wenig aufspießte (ein Tänzer sang „I want to be Virgin Mary and love everyone“), lachten viele im Publikum, andere rannten raus, und die kulturpolitische Luft über den produzierenden und einladenden Theaterleitern wurde dünn.

Es ist ein ständiger Eiertanz geworden. Nach Kuźmińskis Erfahrungen verhalten sich die Theaterleiter „flexibel und clever“ in ihren Beziehungen zur Regierung. Und: „Die Kulturcommunity gibt nicht auf!“. Sie rechnet halt mit Anklagen vor Gericht, das schreckt sie nicht. 

Es sind unsere Nachbarn.