„C’est lent, c’est lourd, c’est à l’allemand….“

(das ist langsam, das ist schwer, das ist deutsch…)

Meinte am 30. Juni in Montpellier Boris Charmatz, der neue künstlerische Leiter und Intendant des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, als es um die Praxis der Wiederaufnahme-Einstudierungen der Stücke der deutschen Tanztheater Ikone ging. Anlass war ein „Runder Tisch Gespräch“ zum Thema: „de la fidélité à la trahison, un positionnement délicat…“ (von der Treue zum Betrug, eine heikle Positionierung…)

Gesehen online von Klaus Dilger

Dabei ging es in der von der französischen Journalistin Laura Cappelle konzipierten Gesprächsrunde, laut Programmzettel, um „Die … Reflexion … auf den Prozess der Wiederaufführung von Werken und insbesondere auf die Strategien, die Choreografen, Korrepetitoren und Interpreten angesichts der ihnen zur Verfügung stehenden Quellen anwenden. Welchen Handlungsspielraum hält jeder für richtig im Hinblick auf das Originalwerk, das in sehr unterschiedlichen Formen erhalten sein kann? Wie denken Choreografen über die Treue zu einem Werk, das ihr eigenes ist, von dem sie sich aber im Laufe der Zeit künstlerisch entfernt haben können? Kann man manchmal, wenn die Choreografen nicht anwesend sind, von einem „Verrat“ des Stils oder des Geistes einer Arbeit sprechen? Welche Rolle spielen neue Interpreten bei der Transformation eines Werkes für ein neues Publikum, und gibt es eine Notwendigkeit, bestimmte Aspekte von Werken neu zu erfinden, um eine bessere Rezeption bei neuen Generationen zu gewährleisten?“

Insgesamt drei „Runde Tische“ waren angesetzt worden, „Von der Treue zum Verrat…“, ausgerechnet am vierzehnten Todestag von Pina Bausch. Dabei ging es natürlich nicht nur um Wuppertal.

Wenn dieser Tag für ein Thema sensibilisierte, das insbesondere alle beschäftigt, die noch selbst mit der Choreografin gearbeitet und teilweise die Stücke mit entwickelt haben, aber auch für diejenigen, die diese aktuell weitergeben oder tanzen und auch für diejenigen, die deren Werke seit langem kennen und studiert haben oder auch zum ersten Mal sehen werden, dann hätte man im Publikum oder auf dem Podium eine grössere Anzahl von Compagnie-Tänzerinnen und -Tänzer vermuten dürfen – vergeblich.

Boris Charmatz_Screenshot-Table-Ronde@Montpellier-Danse

Boris Charmatz_Screenshot-Table-Ronde@Montpellier-Danse

Der Grat ist schmal zwischen getanzter Hülle und atmendem Kunstwerk. 

Das Thema liess spannende Diskussionen erwarten, die jedoch ganz überwiegend ausblieben oder den Weg von den Köpfen der Diskutanten nicht ins gesprochene Wort fanden.

Wenn dies dann doch geschah, war es hauptsächlich der Verdienst von Anne Martin, lange Jahre eine der prägenden Protagonistinnen von Pina Bausch, die einige Male, ohne jegliches Pathos, sehr präzise und mit erstaunlich wenigen Worten und Gesten Boris Charmatz widersprechen und erklären musste, worum es bei den Werken von Pina Bausch überhaupt geht und wie diese aufgebaut sind.

Den neuen Wuppertaler Intendanten, der die (bisherige) Methodik der Einstudierung von Pina Bauschs Werken als „c’est lent, c’est lourd, c’est à l’allemand…“ bezeichnete (das ist langsam, das ist schwer, das ist deutsch…), weitgehend ahnungslos zu sehen, was die Tiefe und den Aufbau der Werke der deutschen Choreografin anbelangt, hat in Frankreich vielleicht nur wenige überrascht, betrachtet man die Rezeption auf seine Ernennung vor zwei Jahren, aber diese Worte lassen wenig Gutes erahnen für die Zukunft der Werke von Pina Bausch auf höchstem, auf ursprünglichem Niveau. Ebenso die Beispiele, die Charmatz ins Feld führte für seine „… ich komme eher aus der wilderen Ecke…“. HIER langsame, schwere Methodik deutscher Art, – DORT französischer Charme und Leichtigkeit?

Es mag im Einzelfall richtig sein, dass bei einem Unfall oder Krankheit ein Tänzer oder eine Tänzerin rasch ersetzt werden und in sehr kurzer Zeit die entsprechende Rolle erarbeitet werden muss, wie im Fall von Letizia Galloni, den Charmatz anführte, die in VOLLMOND überraschend einspringen musste. Nicht so aber bei Simon Le Borgne, der denkwürdiger Weise als einziger Tänzer des aktuellen Ensembles als Zuschauer anwesend war: er hatte lediglich acht Tage Zeit für die Einstudierung von „Palermo Palermo“ (Wieso eigentlich? und er wurde von Charmatz gleich zum Rede-Beitrag aufgefordert) – wir berichteten über das Ergebnis aus unserer Sicht: „Als Palermo Palermo noch Palermo Palermo war“.

PALERMO-PALERMO_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

PALERMO-PALERMO_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

Welche Dimensionen Pina Bausch aber tatsächlich mit ihren Tänzerinnen und Tänzern, ihren Wegbegleitern und -bereitern ausgelotet und geschaffen hatte, liess Anne Martin erahnen. Dabei hatte sie auch eigene, sehr schmerzhafte Erfahrungen nicht ausgelassen, etwa wenn Pina Bausch sie wegen ihrer Gewichtszunahme infolge von Schwangerschaft nicht mehr in der von ihr geprägten Rolle in „Nelken“ besetzen wollte, weil sie nicht mehr diese dünne Frau mit dem Akkordeon verkörperte. Viel später erst habe sie begriffen, dass Pina Bausch stets weit mehr gesehen hatte, …riesige Landschaften aus Bewegung, Farbe, Musik, Form, anstatt einzelne Rollen aneinander zu reihen. Hans Züllig habe ihr einmal gesagt, Pina schaffe getanzte Symphonien, und dabei zeichnet sie mit wenigen Gesten eine mehrdimensionale Schöpfung aus virtuellen Partituren in die Luft, die umeinander kreisten und sich tanzend durchdrangen….

… Charmatz, der darüber, wohl auch etwas populistisch, sinniert hatte, er hätte wohl gerne die schwangere Frau mit dem Akkordeon besetzt, auch wenn seine Probeleiterinnen immer sagen würden, das müsse eine lange, dünne Frau sein, erwiderte sie: …auch grosse Symphonien werden von den Orchestern der Welt immer wieder neu aufgenommen und interpretiert, aber „die Stimme einer Klarinette wird immer von einer Klarinette gespielt…“ und für Pina seien sie diese Instrumente gewesen, mit denen und durch die sie „ihre Symphonien“ komponiert habe…

…Sie habe lange gebraucht, zu verstehen, auch wenn sie sehr eng mit Pina Bausch zusammen gearbeitet habe, dass in ihren Inszenierungen, jenseits der Rollen in Pina’s Stücken alles genau an den Platz gehört, den sie diesen Elementen zugeordnet hatte. – So gesehen und mit diesem zeitlichen Horizont bleibt viel Hoffnung und wer weiss…?

Aber Anne Martin ist eine grosse Künstlerin… punkt, punkt, punkt.

Charmatz hat wohl eher ein neues Publikum im Auge, das die Arbeiten von Pina Bausch noch nie gesehen hat. Eine Fragestellung, die berechtigt ist. Was aber, wenn diesem nur noch die besagten getanzten Hüllen, anstatt der atmenden Kunstwerke präsentiert werden? Und ganz elementar, auch danach wurde im Runden Tisch Gespräch gefragt, wann sagt jemand Stop und wer? Wacht die PIna Bausch Foundation über die getanzten Hüllen, die auf hunderten Videos und sonstigen Dokumenten festgehalten und rechtlich überprüfbar sind oder wacht sie über die Kunstwerke Pina Bausch’s mit all ihren nichtmateriellen und damit nichtjustiziablen Komponenten?

Die Aufzeichnung des Runden-Tisches in französischer Sprache gibt es HIER bei den Kolleginnen und Kollegen von „DANSE-canal historique“

Wir empfehlen HIER auch ganz ausdrücklich das zweiteilige Interview mit Anne Martin,auf der Webseite der PINA BAUSCH FOUNDATION, das Ricardo Viviani 2019 mit ihr im ehemaligen Schauspielhaus in Wuppertal geführt hatte.

Anne Martin_Umwandlungen@MontpellierDanse

Anne Martin_Umwandlungen@MontpellierDanse