Erste Neueinstudierung unter Boris Charmatz

Gegen das Vergessen

Mutige Neueinstudierungen von grossen Kunstwerken können ein neues Licht auf diese werfen. Das geschah am Dreierabend „Café Müller | common ground(s) | Das Frühlingsopfer“ in Wuppertal.

Lilo Weber

„Remember me, remember me, but ah / Forget my fate.“ Welch herzzerreissender Gesang von Ralitsa Ralinova im Opernhaus Wuppertal. Didos Klage rührte uns, als Pina Bausch noch lebte und schlafwandlerisch durch ihr „Café Müller“ tappte. Seit sie nicht mehr da ist, ist die Arie aus Henry Purcells „Dido and Aeneas“ programmatisch geworden. „Café Müller“ werde immer das Stück bleiben, in dem Pina Bausch am meisten fehle und zugleich am stärksten spürbar sei, schrieb meine Kollegin Nicole Strecker hier über eine Aufführung im Jahr 2017. Wie Recht sie hat.

Doch wessen soll hier erinnert werden? Und was erinnern wir, wenn wir uns erinnern? Grosse Kunstwerke zeichnen sich durch Leerstellen aus. Sie lassen immer wieder neue Interpretationen zu und können von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Umständen neu oder anders gelesen werden – und sie behalten ihre Dringlichkeit. Das gilt für alle Stücke Pina Bauschs, so auch für „Café Müller“, das nun unter der Intendanz von Boris Charmatz neu einstudiert wurde. Das gilt für „Das Frühlingsopfer“, das seit der Uraufführung 1975 immer wieder an jüngere Tänzerinnen und Tänzer weitergegeben wurde, auch an andere Kompanien. Allerdings öffnen sich die Leerstellen eines Tanzstücks für neue Blicke nur, wenn die Neu-Einstudierung sitzt, will sagen, in sich stimmig ist und in der Verbindung zum Kunstwerk, wie es die Autorin geschaffen hat.

TRIPPLE-BILL-TTW_CAFE-MUeLLER_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRIPPLE-BILL-TTW_CAFE-MUeLLER_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

Es geht bei allen Pina-Bausch-Abenden seit dem Tod der Choreografin um die Kunst zu erben. Zuständig dafür ist einerseits die Pina Bausch Foundation, bei der die Rechte auf das Werk liegen. Und andererseits das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, welches das Repertoire weiter pflegt und die alten Stücke wieder einstudiert, aber auch einige Arbeiten mit anderen Choreografen geschaffen hat, die mal mehr, mal weniger in Bezug zum Werk Pina Bauschs treten. Der Dreierabend in Wuppertal mit den Stücken „Café Müller“, „common ground(s)“ und „Das Frühlingsoper“ zeigt, wohin die Wege führen könnten. Er ist ein gemeinsamer Beitrag der beiden Bewahrer des Erbes, und erstmals teilt sich das Tanztheater Wuppertal einen Abend mit einer anderen Kompanie. “Das Frühlingsopfer“ wurde bereits von mehreren Ballettkompanien getanzt wie jener der Pariser Oper oder vom English National Ballett. Nun wurde es an junge Künstlerinnen und Künstler aus vierzehn afrikanischen Ländern weitergegeben und in der von Germaine Acogny gegründeten École des Sables in Toubab Dialaw, südlich von Dakar erarbeitet. Die Produktion ist eine Gemeinschaftsarbeit der Pina Bausch Foundation mit der École des Sables und dem Londoner Tanzhaus Sadler’s Wells und tourt als Doppelpack mit dem Duo „common ground(s) von Germaine Acogny und Malou Airaudo durch die Länder.

TRIPPLE-BILL-TTW_CAFE-MUeLLER_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRIPPLE-BILL-TTW_CAFE-MUeLLER_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

In Wuppertal trifft der Doppelabend auf „Café Müller“, welches das Tanztheater Wuppertal seit ich mich erinnern kann, als Doppelabend mit dem „Frühlingsopfer“ aufführt. Beide Produktionen werden mit Live Musik gegeben, gespielt vom Sinfonieorchester Wuppertal unter der Leitung von Patrick Hahn, gesungen von Ralitsa Ralinova und Johann Kristinsson. Und beide Produktionen haben mir neue Lesarten eröffnet.

„Remember me.“ Die Klage der Dido – vor Pina Bauschs Tod war das für mich die Klage einer verratenen Liebe, danach eine wehmütig Erinnerung an die so plötzlich verstorbene Künstlerin. „Café Müller“ war ein Ort, an dem Mann und Frau aufeinander prallen, ein Ort des Liebesverlangens und der Gewalt, des Beginns von Beziehungen und des Endes. Es waren starke Figuren, die da aufeinander krachten, Typen, die wir kannten aus anderen Bausch-Stücken. Nun hat eine jüngere Crew übernommen – Boris Charmatz hat das Stück gleich mit drei verschiedenen Besetzungen einstudieren lassen. Und das ist, zumindest mit der Besetzung der Premiere, Dean Biosca, Taylor Drury, Reginald Lefebvre, Ekaterina Shushakova, Christopher Tandy und Tsai-Chin Yu, sehr sorgfältig gemacht. Trotzdem: Die Alten fehlen. Die Wut und die Verzweiflung der Wiederholungen gehen mir hier nicht so sehr unter die Haut.

TRIPPLE-BILL-TTW_CAFE-MUeLLER_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRIPPLE-BILL-TTW_CAFE-MUeLLER_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

Wohl aber das Bild dieser Gesellschaft. „Remember me“. Wer bittet hier um Erinnerung? Das wütende Schlagen gegen die Wand könnte nämlich auch anders gelesen werden: als Verweigerung. „Café Müller“ ist bevölkert mit Figuren, die sich unter keinen Umständen erinnern wollen und die dazu jede ihre eigene Strategie entwickelt haben. Die einen stürzen sich in die Umklammerung einer Amour fou, eine huschelt durch den Konsum, eine schlafwandelt durch die Zeit, einer zeigt, wie die Beziehung zwischen Mann und Frau jetzt zu gehen hat und einer räumt alles aus dem Weg, woran man sich stossen könnte. Deutschland in den frühen Fünfziger Jahren.

TRIPPLE-BILL-TTW_Le-Sacre-Du-Printemps_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRIPPLE-BILL-TTW_Le-Sacre-Du-Printemps_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

„Das Frühlingsopfer“ der Afrikanerinnen und Afrikaner empfinde ich dagegen als wuchtiger, als ich es von europäischen Tänzerinnen und Tänzern in Erinnerung hatte. Dieses Zittern der Frauen, dieses Zähneklappern, diese gespreizten Hände – da schwingen Bedeutungen mit, die für mich weit über Gewalt zwischen Mann und Frau hinausgehen, mitten in die Diskussion über Kolonialismus und Gewalt. Grossartig.

TRIPPLE-BILL-TTW_Le-Sacre-Du-Printemps_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRIPPLE-BILL-TTW_Le-Sacre-Du-Printemps_Pina-Bausch@TANZweb.org_Klaus-Dilger

Zwischen den beiden Neueinstudierungen präsentiert sich das Duo „common ground(s) von Germaine Acogny und Malou Airaudo wie eine Bestandaufnahme zwischen zwei Welten. Zwei Urgesteine, die eine Pionierin des zeitgenössischen afrikanischen Tanzes, die andere Pionierin des Deutschen Tanztheaters mit Pina Bausch – jetzt sitzen sie im Gegenlicht, zwischen ihnen ein langer Stock. Zwei Kriegerinnen? Zwei Tempeldienerinnen? Schamaninnen? Nein, einfach Freundinnen. Doch diese Freundschaft will gesucht werden – und genährt. Die beiden Frauen nähern sich in ihrem je eigenen Vokabular einander an, übergeben einander Bewegungen, ohne dass diese verschmelzen würden. „common ground(s)“ eben – in der Mitte des Wuppertaler Abends verbindet das Duo nicht nur europäische und afrikanische Tradition, sondern auch Generationen. So, wie das Tanztheater der Pina Bausch in den Jahrzehnten vor ihrem Tod immer auch Generationen verbunden hat. Schön wäre, wenn das nicht vergessen ginge.

TRIPPLE-BILL-TTW_Common-Grounds@TANZweb.org_Klaus-Dilger

TRIPPLE-BILL-TTW_Common-Grounds@TANZweb.org_Klaus-Dilger