Magie einer Nacht

Wiederaufnahme von Vollmond von Pina Bausch im Opernhaus, Wuppertal 

Eine Vollmondnacht ist für die einen ein romantisches Erlebnis, anderen macht sie wirre Träume oder schlaflose Nächte. Das Tanztheater Wuppertal zeigt, dass das  2006 uraufgeführte Stück Vollmond der legendären Choreografin immer noch im Stande ist, sein Publikum in die Magie und in den Rhythmus so einer verrückt schillernden Nacht zu ziehen.

Martina Burandt

Nachtblaues Dunkel. Ein großer schwarzer Felsen, auf dem das Mondlicht glänzt, liegt da, als zeige er uns den Anfang der Welt.  Zwei Männer stehen am Bühnenrand, jeder eine leere Wasserflasche in der Hand. Mit großen Armbewegungen holen sie immer wieder aus, um das Geräusch der Leere einzufangen. Später sieht man sie mit langen Stöcken kämpfen. Ein anderer Mann versucht, eine Frau zu erobern. Sie steht starr da. Plötzlich ein Kuss von ihr, er weicht zurück. Wie an seinen Lippen festgesaugt, folgt sie ihm in schnellen Schritten. 

Tom Waits singt im Hintergrund mit tiefrauchiger Stimme und eine Frau lacht vor Schmerz, dann plötzlich ganz ausgelassen, wie befreit. Wieder zwei Männer, nun nebeneinander auf dem Boden liegend, spucken sich im hohen Bogen an – wie pubertierende Jungs beim Wettpinkeln. Eine Tänzerin im kirschroten Kleid fragt laut „Was ist besser, eine große Liebe mit allem Drum und Dran oder ein bisschen Liebe jeden Tag? 

Sehnsucht, Schmerz und Verlangen, dann wieder Nonsens und Freude, zeigt sich in den unterschiedlichen, rasch aufeinander folgenden Begegnungen der Tänzerinnen und Tänzer. Ein Mann positioniert sich wie ein Stuhl, damit eine Frau bequem auf ihm sitzen kann. Geil! ruft sie affektiert und hebt ihr Weinglas. Zwei Männer ziehen eine Frau an einer langen Stange durch Wasser wie eine Fahne. Eine andere treibt später auf einer Luftmatratze dahin. Und durch das Selbe Wasser lässt eine weitere Akteurin  ihr langes Haar in einer Wellenbewegung hin und herschwingen. Eine andere Tänzerin wird wie ein Wasserrad gedreht. Und dicht vor dem Publikum reibt sich eine mit einer Zitrone ab und schreit: Ich bin sauer!

Immer mehr Wasser und Bewegung kommt auf die Bühne. Es regnet in Strömen vom Bühnenhimmel und sammelt auf der Bühne wie in einem Bassin. Menschen, allein oder zu zweit spielen, tanzen, springen, kriechen wie Tiere. Sie sind Liebende, Streitende, Kämpfende, Clowns, Badenixen oder Fische.

Schlafwandler*innen, Geister, Suchende, Verzweifelte tummeln sich in dieser Nacht. Umarmungen, die ins Leere führen, dann ein  ansteckender Rhythmus, der alle, wie in einem Fred-Astaire Film, zu einer ausgelassenen Gruppenchoreografie zusammenbringt. Und immer wieder blitzen  Bilder wie Erinnerungen auf, wiederholen sich, bis es am Ende wie am Anfang ist und das begeisterte Publikum von den Sitzen reißt.

VOLLMOND_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

VOLLMOND_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger.

Noch jetzt, zwei Nächte und zwei Tage später, sind die Eindrücke dieses Tanztheaterabends so präsent, dass ich mir sicher bin, dass sie sich längst meinem „inneren Selbst“ angeklebt haben. Sie fließen durch meinen Körper wie der unaufhörliche Regen auf der Bühne im Wuppertaler Opernhaus. 

Pina Bausch nutzte auch in dieser Choreografie die Kraft der Symbolik. Das puristische Bühnenbild von Peter Pabst besteht aus einem Felsen, aus Licht und vor allem aus Wasser. Mit Wasser, diesem fluiden Stoff, lässt 2009 verstorbene  Tanztheater-Ikone das Ensemble spielen, kämpfen und seine Bewegungen in die Dunkelheit zeichnen.

Wasser steht, wie auch die Nacht, für Tiefe und das Unterbewusste. Wasser ist Bewegung und aus ihm entsteht das Leben. Wir selbst bestehen zu rund achtzig Prozent aus Wasser. Das Wasser der Weltmeere wird durch die Gravitationskraft des Mondes in die Rhythmen von Ebbe und Flut, Leere und Fülle bewegt und auch wir Menschen spüren die Kraft des Mondes. Das kann aufwühlend sein.

In „Vollmond“ vermischen sich die Realitäten aus Film, Traum und Alltag in einer revueartigen Collage. Meisterhaft ist die Ausgewogenheit der Mittel aus Tanz, Schauspiel, Film-Slapstick, Pantomime, Musik aller Genres; von klassischen Streichern über Jazz oder das muntere “Lillies oft he Valley“ von Jun Miyake bis hin zu Underground-Größen der 90er Jahre.

Das  zwölfköpfige Ensemble, in dem nur noch vier Tänzerinnen aus der ursprünglichen Besetzung dabei sind, überzeugt in meisterhaft mitreißenden Tanzszenen und mit wahrhaftiger Spielweise, jede(r)in ganz eigener  Bewegungssprache. Das alles führt auf erstaunlich unterhaltsame Art und mit viel Humor in ernsthafte, universelle Tiefen des menschlichen Lebens. Berührend sichtbar wird unsere ewige Suche nach Verbindung, nach Liebe, nach Ausdruck und Bedeutung in einem Dasein voller Täuschungen. „Vollmond“ vom Wuppertaler Tanztheater beschert eine Nacht, die man so schnell nicht vergisst!

VOLLMOND_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger. 2022

VOLLMOND_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger. 2022