VIDEO_IMPRESSIONEN der Wiederaufnahme und Neueinstudierung von Pina Bausch’s NELKEN

Das Leben der Anderen…

Nachtbesprechung von Klaus Dilger

Ein spärlich beleuchtetes Feld aus tausenden von Nelken, als Einlassstimmung auf der offenen Bühne des Wuppertaler Opernhauses. Ideale Kulisse, wie es scheint, für so manches „Selfie“ der Premierenbesucher der Wiederaufnahme des legendären Pina Bausch Stückes von 1982.

Die Lautsprecher-Ansage, doch bitte die Handys jetzt auszuschalten, kündigt den Beginn der Vorstellung an. Dann staksen nach und nach Frauen in eleganten Seidenkleidern auf Stöckelschuhen auf die Bühne und behutsam durch das Blumenmeer. Einige tragen gepolsterte Stühle mit Armlehnen mit sich, ebenso wie die Männer in ihren altmodisch wirkenden Anzügen. Das Saallicht ist noch immer nicht erloschen. Sie platzieren ihre Stühle inmitten der Blumen, aber doch so, dass sie das freie Feld nicht verdecken. Das Licht wird wärmer, heller, theatralischer, taucht die Sommerfrische-Versammlung in ein angenehmes Abendlicht, das dennoch die spürbare Anspannung der Menschen dort nicht übermalen kann.

„…schön ist die Welt, wenn man sie wie ein Märchen erzählt…“, schmettert ein Operettensänger Franz Léhar’s Melodie über das riesige Nelkenfeld.

Dann Stille. Der Mann im eleganten schwarzen Anzug mit schwarzer Fliege (Andrey Berezin) erhebt sich. Jeder seiner Schritte ist deutlich hörbar, wenn er an die Bühnenrampe schreitet ohne eine Blume zu berühren und von dort die Zuschauer betrachtet. Dann geht er von der Bühne weiter in den Zuschauerraum, spricht diskret aber bestimmt einen älteren Herrn in der neunten Reihe an und fordert ihn auf, ihn nach draussen zu begleiten. Andere Tänzerinnen und Tänzer folgen seinem Beispiel in kurzen Abständen. Gut zwanzig Personen werden so aus dem Publikum nach und nach entfernt, ehe die Darsteller auf die Bühne zurückkehren und mit ihren Sesseln entschwinden. Zurück bleibt ein einzelner Tänzer, tritt in die Mitte der Bühne und beginnt synchron seine Worte in Gebärdensprache zu übersetzen: „I’m waiting for the man I love…“

So beginnt Pina Bausch ihr Stück im genialen Bühnenbild von Peter Pabst.

Dessen Symbolsprache der namensgebenden Nelken mag manchen träumerisch erscheinen, wie das Paradies, angefüllt mit reiner Liebe, wie das Programmheft des Abends die Lesart weisen will. Wieder andere sehen darin das Symbol des bourgeoisen Establishments und die Mitbringsel zum Muttertag. Sie ist weit vielschichtiger.

Vieles spricht dafür, zumindest nach Interpretation des Rezensenten, dass sie in einer weiteren Ebene auf den „sozialistischen Bauern- und Arbeiterstaat“ verweisen könnten, der sich die Nelken zum Staatssymbol erkoren hatte, oder im erweiterten Sinne auf Gesellschaften, in denen die Freiheit des Einzelnen unterdrückt wird. Würden so die beliebten Friedhofsblumen (die Nelken), das „freie Feld“ als Todeszonen entlarven, mit denen die damalige DDR ihre Bürgerinnen und Bürger vor der Flucht abschrecken wollte? Kommen nicht später meterhohe Gerüste hinzu, die wie Wachtürme das Feld überragen? Auch weist die Bühnenhandlung den Weg auf zu dieser möglichen Entschlüsselung: Uniformierte mit Schäferhunden, Schlägertypen in dunklen Anzügen, Passkontrollen, Überwachung, menschenunwürdige Behandlungen und Erniedrigungen, Stasi-Überwachungsmethoden und Säuberung…., wie in der geschilderten Anfangsszene.

Und nicht zuletzt das weltberühmte Bild der dürren, halbnackten Akkordeon-Spielerin, die im Nelkenfeld schreitet, uns Zuschauende stumm ansieht und auf die gleiche Weise wie sie kam wieder entschwindet. Dann werden wir uns bewusst: dieser romantisch scheinende Grund ist auch ein Abgrund.

NELKEN_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Bilder werden in den Köpfen und im Bauch an die Oberfläche gespült, von Menschen, die so abgemagert waren, dass wir nicht mehr wissen, ob sie Mann oder Frau waren und die das Konzentrationslager der Nazis, in denen Juden, Roma, Andersdenkende, schwule Männer und Frauen vernichtet wurden, nur deshalb überlebt hatten, weil sie Künstler waren und als Musiker und Musikerinnen im KZ-Orchester spielen konnten zur Unterhaltung der Vernichter.

Was für eine kraftvolle und tief erschütternde Setzung der Choreografin, die Akkordeon-Spielerin zweimal in Verbindung mit dem Mann auftreten zu lassen, der auf den Mann wartet, den er liebt.

Die Männer in Pina Bauschs NELKEN haben nicht einmal mehr Tränen, die sie weinen könnten. Hierfür lässt sie Andrey Berezin bergeweise frische Zwiebeln hacken, in denen diese dann ihre Köpfe auf einem „Jahrmarktsstand der Tränen“ tief vergraben können.

Dies ist der Blick in den Abgrund, der sich allgegenwärtig unter dem Feld befindet, ganz besonders in der Entstehungszeit des Stückes, anfangs der achtziger Jahre, als so viele ihre Liebenden in jungen Jahren verloren hatten.

„I’m waiting for the man I love…“

und wieder tritt die Akkordeon-Spielerin hinzu auf das Nelkenfeld. Lauscht. Und dann übersetzt sie die Worte in Gebärdensprache: „Frühling, Sommer, Herbst und Winter…“

In Gedanken noch bei Margot Friedländer, kehrt das Ensemble mit der berühmt gewordenen „Nelken Linie“ zurück auf die Bühne.

NELKEN_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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Pina Bauschs Botschaft ist zutiefst menschlich

Ein Stück über die Liebe

„NELKEN“ ist ein Stück über Liebe, zu den Menschen, zu welchem Geschlecht auch immer und in welcher Form auch immer. Und eine Ode an das „anders sein“, „sich sein“ und das auch zu dürfen, eine liebevolle Hymne an Wahrhaftigkeit, an Ausbruch und sanfte Revolution, wo immer diese in Gefahr zu sein scheint und an die Kraft des Individuums und der Kunst sowieso. – Jede der Nelken, die zu tausenden die Bühne bedecken, erscheint wie ein Unikat, so wie jede Erinnerung einzigartig und doch teilbar zu sein scheint.

Pina Bausch gelingen grossartige Bilder, oft humorvoll, ja sogar ausgelassen, die das bestens disponierte Ensemble mit Freude zelebriert und teilt. In Kinderspielen, – „Un, deux, trois, soleil“ – in denen sich ganz subtil Subversion und Aufstand gegen Regeln und Obrigkeiten einschleichen – herausragend im Wortsinn Taylor Drury auf den Schultern von Alexander Lopez, die wie ein gemeinsamer Körper agieren und Antworten finden, die Normen ad absurdum zu führen. Das macht diebischen Spass, ihnen allen dabei zuzusehen, mit welcher Freude sie das rigide Geflecht ins Wanken bringen. Ebenso die farbenfrohen Szenen, in denen die Tänzerinnen und Tänzer, alle in bunten Frauenkleidern wir Hasen ihren Häschern in Uniform, deren Schäferhunden und Andrey Berezin davon hoppeln oder ausgelassen auf und unter Tischen tanzen.

Das ist gekonnt und leicht gemacht, von allen Beteiligten, die dieses Werk geschaffen, wieder geschaffen und es mit Leben gefüllt haben und doch bleiben sie alle hochkonzentriert, denn Macht und Ohnmacht, Unterdrückung, Gewalt bis hin zur Folter sind allgegenwärtig oder lauern um die Ecke und dabei ist der Tod ein ständiger Begleiter (auch musikalisch mit Schuberts „Der Tod und das Mädchen“. – Leben eben – Lieben eben –

In jeder dieser rasch kippenden Stimmungen und Szenenabfolgen, während der pausenlosen 110 Minuten, agiert das junge Ensemble auf den Punkt genau glaubhaft und authentisch, wie man es zuvor kaum hätte erwarten können.

Wie genial, vielschichtig und tief die Kunst einer Pina Bausch ist, wird spürbar und sichtbar.

Bilder aus Filmen, die sich eingebrannt haben, drängen sich ins Gedächtnis:  Frappant etwa die exzellente Szene, als die Tänzer ganz am Ende der Bühne, revueartig aufgereiht in einer Linie im Scheinwerferlicht synchron mit der rechten Hand den linken Arm wegwerfen und dabei ein Klatschen entsteht, als würden sie mechanisch applaudieren, während dunkle, muskulöse Gestalten im Schatten andere Menschen zusammenschlagen. Sofort wird Bob Fosse’s „Cabaret“ mit Liza Minelli und Joel Grey lebendig… Meister und ihre Werke unter sich.

Die Anzahl grossartiger Momente in NELKEN ist so zahlreich, dass eine Rezension nur einladen kann, diese selbst zu erleben. Und auch hier gilt: jedes Erleben wird vermutlich einzigartig sein, weil Kunst auch das eigene Leben zum klingen bringt und so zu erweitern vermag. Pina Bauschs Werk zeichnet aus, dass die Quelle aus der sie schöpft, stets über den Augenblick und die Zeit des Entstehens hinausweist. NELKEN ist eines der berührendsten, vielleicht persönlichsten Werke der Choreografin, nahe an TEN CHI.

Bausch lädt die Zuschauerinnen und Zuschauer zum Ende hin ein, sich von den Plätzen zu erheben und zeigt, wie einfach es ist, mit vier Gesten Liebe und Menschlichkeit zu verströmen, wenn diese nicht allein auf sich selbst bezogen oder im leeren Raum bleiben, sondern den jeweiligen Sitzpartnern zugewandt zu einer Umarmung werden können. Erstaunlich, wie einfach es sein kann, all das Gesehene der letzten eineinhalb Stunden aufs herzlichste zwischen zwei Körpern und Menschen zu teilen, die sich bis dahin vielleicht fremd gewesen sind.

Auch die Tänzerinnen und Tänzer werden nacheinander zurück auf die Bühne kommen, die Arme stets in der fünften Position über dem Kopf tragend und mit dem Publikum teilen, weshalb sie Tänzerin oder Tänzer geworden sind, um sich dann zum finalen Gruppenfoto zu versammeln.

Schmunzeln, Erleichterung, Black Out, tosender Schlussapplaus.

NELKEN_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

NELKEN_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

„Tanz ist eine Ensembleleistung“

Ein Werk wie NELKEN in Vorstellungen zum Leben zu erwecken und mit einem Publikum zu teilen, ist das Ziel, dem sich alle Protagonisten gemeinsam verschrieben haben müssen und sie können es nur gemeinsam entfalten, vorausgesetzt, sie sind mit ihren Möglichkeiten an der richtigen Stelle eingesetzt.

Noch nicht alles perfekt

Es gibt gelegentliche Schwächen in dem Abend, wie etwa in der Sprachverständlichkeit der Künstlerinnen und Künstler. Sie werden mit zunehmender Sicherheit und extra Arbeit vermutlich verschwinden.

Nur über die Rolle der Akkordeon-Spielerin und deren Besetzung sollten die beiden Probeleiter Silvia Farias Heredia und Eddie Martinez noch einmal nachdenken, die ansonsten eine bravouröse Neueinstudierung zu Stande gebracht haben.

Es erfüllt mit Hoffnung zu sehen, dass das Ensemble die Freude und den Spass zu haben scheint, dieses Pina Bausch Stück glaubhaft und überzeugend und gemeinsam auf die Bühne zu bringen. Sich das Werk Pina Bauschs angstfrei anzueignen wird sich dabei als richtig erweisen.

Reginald Levebvre ist nicht Lutz Förster, aber das soll er auch nicht sein. Simon Le Borgne ist nicht Dominique Mercy und soll es auch nicht sein. Aber beide haben ihre Sache ganz hervorragend gemacht und alle anderen auch!

Vielleicht waren die Tänzerinnen und Tänzer, die das Privileg hatten, zusammen mit Pina Bausch und all ihren kongenialen Künstlerpartnern, wie Rolf Borzik, Marion Cito, Peter Pabst und Matthias Burkert, das Tor zu einem neuen Verständnis von Tanz aufzustossen, allesamt und jeder Einzelne von ihnen „Erscheinungen“, die mit jedem auftreten auf die Bühne die Luft zum flirren bringen konnten. Dieses Privileg haben diese Künstler der neuen Generation nicht im Gepäck.

Aber am Premierenabend haben sie als Ensemble gemeinsam, mit dem Werk von Pina Bausch, die Luft zum flirren gebracht!

Andrey Berezin, Dean Biosca, Naomi Brito, Emily Castelli, Maria Giovanna Delle Donne, Taylor Drury, Letizia Galloni, Luciény Kaabral, Simon Le Borgne, Reginald Lefebvre, Nicholas Losada, Alexander López Guerra, Julian Stierle, Christopher Tandy, Tsai-Wei Tien, Aida Vainieri, Frank Willens

NELKEN_Pina-Bausch©TANZweb.org_Klaus-Dilger

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