„… vergaloppieren Sie sich ruhig, sonst lohnt’s ja nicht.“
VIDEOIMPRESSIONEN von „KONTAKTHOF“ von Pina Bausch in Wuppertal (und jetzt in Paris)
Nach(t)kritik von Klaus Dilger
„…Variete? ein Zeigespiel. Von Traurigem, Verzerrtem, von Engem und Schrei, von Schreck und Gelächter und soviel Lust dabei, soviel Laune und Fühlen und Überraschung und Zärtlichkeit, tanzen und flüstern und launige Lieder
Gezeigt wird, und wie wir zeigen, wie wir verstecken oder auf dem Zugedeckten, Verstellten und etwas zu sehen suchen müssen, mühsam oft, fast bräuchte man Sehakrobatik, als wären wir im Zeigezirkus. Hier im Tanzsaal, hier ist Zirkus, hier ist Überallzirkus, Kino.
Alles zeigen oder von allem das, was nie selbst verständlich ist, dieses tief in uns Verzweigte, unsere Selbstverständlichkeiten. Mit den Augen der Pina Bausch sehen wir wie Kinder. Ohne Einübung in Distanzen, auf kein Maß reduziert. Unbegreiflich, unser Selbstverständliches.
Für zwanzig Pfennig oder zwei Groschen, wie es zu einem Zirkuspferd passt, (zu einem Automaten aber eher zwanzig Pfennig) kannst du dich hernehmen lassen zu einem Ritt auf der Stelle; die besten Bewegungsarten haben das auch für sich: man kommt nicht weit weg und hat doch was davon.
Träumen Sie sich einen Rosengarten oder seien Sie Fräulein Grete nachts am Kongo, Sie haben freie Fahrt und Eintritt frei und vergaloppieren Sie sich ruhig, sonst lohnt’s ja nicht. Und falls Sie nicht auf Ihre Kosten kommen, zahlen Sie halt mehr, Sie wissen, eine Theaterkarte ist teuer, sie kostet den Staat Stattliches und deshalb Sie nur die Hälfte und die Frau an der Kasse einen Salto mortale, sehen sie, sie sitzt da mit offenem Mund…“ (aus dem Originalprogrammzettel von 1978)
Das war frech, was Pina Bausch da von llle von Chamier 1978 in ihren Programmzettel zur Premiere von „Kontakthof“ im Wuppertaler Opernhaus zitiert hatte und nicht nur „damals“.
Das hatte Biss, besonders in jener Zeit, als die Wuppertaler Gesellschaft ein „Wuppertaler Ballett“ und eigentlich natürlich „Ihresgleichen“ sehen wollte, nur eben im Opern-Foyer und nicht in einem „Spiegel“ auf der Bühne. Das hatte vor allem auch deshalb Biss, weil ihre Tänzerinnen und Tänzer in Pina Bauschs Arbeit „Zähne zeigen“ konnten, – nicht nur zum Lächeln.
Pina Bausch siedelte ihren „Kontakthof“ Ende der Siebziger, lange vor „Google“ und „YOUtube“, in einer Welt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts an, mit Musik von Sibelius, nostalgischen Schlagern und europäischem Tango. „Kontakthof“ bezeichnet hierbei die Gesteins-Zone zwischen flüssigem und erstarrten Gestein unterschiedlicher Dichte und Dicke, also den Berührungspunkt, der jeder Eruption, jedem Vulkanausbruch vorangestellt ist. Dass Gefängnishöfe und manche Zonen in der Prostitution diesen Namen tragen, widerspricht den zitierten Gedankenbruchstücken des Programmzettels nicht, in dem alles gesagt ist…, der Rest ist schauen und erleben.
Wer „Kontakthof“ (und andere Werke von Pina Bausch) mit dem sich rasant verjüngenden Ensemble des Tanztheater Wuppertal zum ersten Mal sieht, wird sich kaum die Frage stellen und schon gar nicht beantworten können, wieviel von dem Werk, von seinen Co-Autoren und deren Nachfolgerinnen und Nachfolgern an die jetzt Tanzenden vermittelt werden konnte und als lebendige Performance erhalten geblieben ist. Irgendwann in naher Zukunft werden die Zeitzeugen fehlen, die dies noch könnten. Dass die Werke der Tanztheater-Ikone ein heterogenes Ensemble mit starker Technik und Ausdruckskraft benötigt, das sich vorwiegend diesem Repertoire widmet und aus ihm schöpft, scheint nahezu gewiss. Dies ist nicht zuletzt abzulesen an den Entwicklungsschritten der Tänzerinnen und Tänzer in den Stücken von Pina Bausch.
Deutlich unterstrichen wird dies auch durch die Premiere nach der Übernahme des Werks in das Repertoire des Ballet de L’Opéra de Paris in der vergangenen Woche. Da sitzt jeder Takt, jedes Lächeln, jede Frisur dieses uniformen Ensembles aus Sternen-, Sternchen- und Corps de Ballet- Tänzerinnen und Tänzern, nur Biss(wunden) oder Anderes, das möglicher Weise geeignet wäre, (s)eine Welt durch Tanz(Theater) von Pina Bausch verändern zu lassen, darf nicht erwartet werden…
Wie hiess es doch im Programmzettel 1978? „… Träumen Sie sich einen Rosengarten oder seien Sie Fräulein Grete nachts am Kongo, Sie haben freie Fahrt und Eintritt frei und vergaloppieren Sie sich ruhig, sonst lohnt’s ja nicht.“