„WUNDERTAL“ in Wuppertal Sonnborn 

Es war ein sehr gut organisiertes Event, das den ersten Auftritt des neuen Intendanten des Wuppertaler Tanztheaters, Boris Charmatz, in seiner neuen Wirkungsstätte charakterisiert.

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ein Kommentar und Betrachtungen dazu von Klaus Dilger

Er dürfte dabei einige, vermutlich mindestens die 180 Mitwirkenden des „Wundertals“, zu neuen Fans seiner selbst gemacht haben und nicht nur „ganz nebenbei“ die Stadt Wuppertal, wenigstens für ein paar Tage, deutschlandweit, vielleicht sogar darüberhinaus, in das Zentrum des kulturellen Interesses vieler Bürgerinnen und Bürger gebracht haben…. Wann gab es zuletzt soviel „action“ unter der Schwebebahn? Das freut selbstredend auch die Politikerinnen und Politiker in Stadt und Land, die Charmatz einen Achtjahresvertrag gegeben haben. Feststimmung und Erleichterung pur! Zumindest für drei Tage, denn dann tritt der Intendant erstmals auch künstlerisch in Erscheinung, wenn er zwei Aufführungen seines Solowerkes „Somnole“ im ehemaligen Schauspielhaus (und hoffentlich zukünftigen Pina Bausch Zentrum) tanzen wird.

Dass die Mitwirkenden, die fit genug waren, um an diesem, mehr als dreistündigen, Marathon teilnehmen zu dürfen, alles gegeben haben, war schon nach dem ersten Zeitfenster von etwa zwanzig Minuten augenfällig: sie waren vielfach bereits am Ende ihrer Kräfte. Vor allem hierin wurden die Unterschiede zwischen professionellen Tänzerinnen und Tänzern und Amateuren deutlich, denn nur Erstere verfügen über die Erfahrung, körperliche Kräfte entsprechend einzuteilen. Bewegungstechnisch fügten sie sich äusserst sympathisch in die Möglichkeiten der Teilnehmenden ein. „Jeder Mensch ein Tänzer“, ganz nach Beuys, der ja ebenfalls eng mit Wuppertal verbunden ist.

Dies beschreibt jedoch nur den glänzenden Blick auf die Medaille

WUNDERTAL-Boris-Charmatz©TANZweb.org_Klaus-Dilge

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Charmatz trifft Bausch!?

Unwillkürlich schleicht sich bei dieser Betrachtungsweise der vollkommenen Erschöpfung sogar für eine Sekunde der „Opfer-Tanz“ des „Sacre du Printemps“ von Igor Stravinsky als Prinzip in das Denken ein und damit eines der ikonografischen Werke von Pina Bausch für und mit dem Tanztheater Wuppertal. Doch dies vergrössert nur umso dramatischer die Fallhöhe zwischen „Action“, Happening“ und Tanzkunst.

Zufall? Dass Boris Charmatz ein berechnender Kopf ist, zeigt sich auch daran: mit den Einspielungen starker Orgelmusik-Passagen verweist und stimmt er schon mal auf seine „grosse Kathedrale“ ein, mit der er erstmals in der kommenden Spielzeit ein Zeichen setzen will und muss, als neuer künstlerischer Leiter dieses, allein mit den Werken Pina Bauschs bisher, weltberühmten Ensembles. Und dies wohlgemerkt in einer ganz aussergewöhnlichen Jubiläumsspielzeit: 50 Jahre Pina Bausch!

WUNDERTAL-Boris-Charmatz©TANZweb.org_Klaus-Dilge

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Das hätte sich der französische Konzept- und Non-Dance-Künstler wohl niemals träumen lassen, sich qua Amtes, zumindest in der Gestaltungshoheit als Intendant, auf eine Stufe mit der Tanztheater-Ikone stellen zu dürfen, die quasi ein Weltkulturerbe verkörpert.

Dies würde er weit von sich weisen, denn er ist (wie gesagt) ein kluger Kopf, der für die kommenden acht Jahre die Befugnis verliehen bekommen hat, die Zukunft dieses Erbes mitzugestalten.

Solche Gedanken fallen allerdings höchstens einem Tanzjournalisten ein, denn am vergangenen Sonntag war „SONNtag“ und auch dies muss sein dürfen.

Das Medieninteresse war mindestens ebenso gross, wie das des Publikums! Wann gab es dies zuletzt an der Wupper? Zwischen viereinhalb und fünfeinhalb Tausend Zuschauende wurden gezählt und alle zehn Meter bloggten irgendwelche TikToker live. Auch dies vielleicht oder vermutlich eine starke Werbeaktion (die gehörig nach Hinten los ging) des Tanztheaters? Des zukünftigen Pina Bausch Zentrums? Von „TERRAIN“, dem Label des Intendanten?

„Wir bringen das Leben zurück nach Wuppertal…“ war mehrmals von verschiedenen! Bloggern als Live-Kommentar zu hören…. „Ja tiktoken die denn noch richtig…?“, könnte jemand fragen…, aber wer will das schon bei soviel Freude und Erfolg?

Wir wollen nicht, aber wir müssen! Auch weil Boris Charmatz Erfahrung haben müsste mit derlei Gross-Events und mit der

Kehrseite der Medaille

Den oder die „Körper in den Kampf werfen…“ ist nicht neu. Von Pasolini über Raimund Hoghe, Johannes Odenthal und Ismael Ivo gibt es eine grosse Zahl an Reflexionen zur Kraft und (Ohn)Macht des Körpers in Politik, Gesellschaft und in der (Tanz)Kunst. „Im Regen und Schlamm zu tanzen…“, wie es Boris Charmatz bei seiner Antritts-Pressekonferenz als Option für das Tanztheater Wuppertal formulierte, …warum nicht, wenn es aus freiem Willen, in der Natur, in Würde geschieht. Die oberste und nobelste Aufgabe eines künstlerischen Leiters ist es stets, den Mut und die Phantasie seiner Mitkünstlerinnen und Mitkünstler  zu entfachen und mit ihnen gemeinsam unbekanntes „Terrain“ zu erkunden und zu durchmessen. Hierbei dürfen und müssen die Künstler aber stets auf die Fürsorge und den Schutz ihrer Leitung als oberstes Prinzip vertrauen können.

„Im Regen und Schlamm zu tanzen…“, bedeutet Heute aber (leider) nicht nur, sich der Natur auszusetzen, sondern gerade im Hier und Jetzt, den sozialen Medien wie TikTok, YouTube, Instagram und Facebook, etc.. Waren die Künstlerinnen und Künstler des Tanztheaters und die mit ihnen gemeinsam agierenden „Freiwilligen“ auf Sturm und Regen, Schlamm und Dreck der sozialen Medien vorbereitet worden? – Wir hoffen so sehr, dass die Antwort hierauf ein eindeutiges JA sein wird. Und wer macht deutlich, dass dies hier ein „Event“ war, ein „Happening“, das nicht gleichzusetzen ist mit Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal und deren Werke?

Es sind nicht nur vermeintliche Komiker und Sadisten, sondern, unter anderen, gewählte Bundestagsabgeordnete, die mit ihren Smartphones die (Selbst)Darstellungen begleiteten und auf brutalste Weise im Schnitt zusammenfügten, um möglichst viele (zum Teil sehr übergriffige) Kommentare zu generieren.

Die begleitenden Kommentare dieser „Influencer“ sind oft perfide, weil sie in ihrer Vereinfachung zutreffend erscheinen. Jeder  und jede der geschätzten viereinhalb Tausend, die dabei waren, besitzt über ein Mobiltelefon die Grundausrüstung, um eine Kampagne in den sozialen Medien zu schaffen. In welche Richtung eine solche Kampagne geht, liegt nicht im Ermessen des Veranstalters.

Professionelle und journalistisch arbeitende Fotograf_innen und Filmemacher_innen sind einem Berufsethos verpflichtet, der gerade auch jenen den Schutz garantiert, die sich in ihrer Darstellung gelegentlich in sehr fragile Situationen begeben, aus welchen Gründen auch immer.

Was wir als Redaktion in den zurückliegenden beiden Tagen, neben einem vielfältigen Medienecho, über das „Wundertal“, zum Beispiel auf TikTok und YouTube, sehen und als Kommentare darauf lesen mussten, ist gelinde gesagt erschütternd und wirft Fragen zum Schutz der Beteiligten auf, besonders für diejenigen nicht-professionellen Teilnehmenden, die hierbei besonders in den Fokus geraten sind. Aber nicht nur…!

Charmatz hat das „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“ auf die Strasse gezerrt. Erstmals ohne jeden Schutz. Das mögen Manche, vielleicht sogar Viele gut finden. Nur: Charmatz hat keines der filigran erarbeiteten Werke von Pina Bausch in einem „revolutionären Akt“ vom Bühnenraum befreit auf der Strasse unter der Schwebebahn gezeigt, sondern 180 Menschen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen engagiert und teilweise ihr Innerstes nach Aussen improvisiert haben. „Premier degrée“ würde der Franzose sagen, wo doch die Werke von Pina Bausch gerade ihre Vielschichtigkeit und Präzision auszeichnet. Viele der Zuschauenden unter der Schwebebahn, die glauben, sie hätten jetzt das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch gesehen, dürften deren Werke noch niemals Live erlebt haben. Folgt man den Kommentaren auf den sozialen Medien, dann … NEIN, lieber nicht!

Boris Charmatz:  „Gemeinsam machen wir einen dreistündigen Tanzmarathon, der neben Countdown, entfesseltem Rennen, auch Liebes- und Protest bewegungen, Alltagsgesten umfasst … Sogar plötzlicher Tod und Zombietänze bauen wir ein, verwoben mit Else Lasker- Schülers berühmten Gedicht Mein Tanzlied (»So tanz ich schon seit tausend Jahr, Seit meiner ersten Ewigkeiten«) … Wir sind von Kriegsdrohungen, dem Klimawandel und der Energiekrise umgeben, aber unsere Gesellschaft tanzt noch, weiter, mehr, unaufhörlich, komme, was wolle – und zwar gemeinsam. Kommen Sie! Machen Sie mit! Was wir vorschlagen, ist seltsam, aber schön, und anschließend feiern wir, einfach so, ohne festgelegten Übergang ein Fest auf der Straße, das ebenso wild ist wie das Happening zuvor…“

WUNDERTAL-Boris-Charmatz©TANZweb.org_Klaus-Dilge

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